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Kriminelle Clans bedrohen Polizisten
Beamte aus Essen berichten von Einschüchterungen durch Großfamilien – gegen sie selbst und gegen Mitarbeiter von Ämtern. Die Gewerkschaft ist alarmiert und fordert schärfere Gesetze.
DÜSSELDORF/ESSEN Im Kampf gegen kriminelle Clans geraten zunehmend Polizisten ins Visier arabischer Großfamilien. So gebe es Einschüchterungen und Drohszenarien von Clans gegen Polizisten, sagte der Essener Polizeipräsident Frank Richter. „Es kommt zum Beispiel vor, dass abends ein dicker Mercedes-AMG vor dem Polizeipräsidium steht und die Insassen einem bestimmten Polizisten einen schönen Feierabend wünschen. Damit sagen die Clans ihm: Pass auf, wir wissen, wer du bist“, sagte Richter. „Als wir uns dazu entschieden haben, konsequent gegen Clans vorzugehen, war uns bewusst, dass die sich wehren werden. Davon lassen wir uns aber nicht einschüchtern“, betonte der Polizeipräsident.
Essen gilt als Hochburg krimineller Clans in Nordrhein-Westfalen. Fünf Polizisten, die dort täglich gegen diese Strukturen vorgehen, haben unserer Redaktion von ihren Erfahrungen und den Bedrohungslagen berichtet. „Man guckt privat schon öfters in den Rückspiegel, um zu sehen, ob man verfolgt wird“, sagte einer der Polizisten. Auch Mitarbeiter von Behörden werden demnach von den Clans eingeschüchtert. „Wenn die nicht das bekommen, was sie wollen, fangen die Drohungen an“, sagte ein weiterer Polizist aus Essen. „Dann bekommen die Sachbearbeiter ein Bild von der Schule ihrer Kinder auf den Tisch gelegt.“Diesem Druck halte niemand lange stand.
Erich Rettinghaus, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft in Nordrhein-Westfalen, reagierte entsetzt auf die Berichte. „Dass es so etwas in einer deutschen Großstadt gibt, schockiert mich. Die Clans wissen offenbar genau, was sie da tun. Sie bewegen sich mit ihren Einschüchterungsversuchen in einer rechtlichen Grauzone“, sagte Rettinghaus. Dagegen könne man deshalb nicht viel unternehmen. Er forderte: „Die Gesetze müssten geändert werden, damit solche subtilen Drohungen auch als Straftat gewertet werden können.“
Essens Polizeipräsident Richter versucht, seine Beamten zu schützen. „Entscheidend ist, dass die Kollegen wissen, dass die ganze Polizeibehörde hinter ihnen steht. Wir schicken sie schließlich in gefährliche Lagen – und da müssen wir auch uneingeschränkt hinter ihnen stehen. Und das tun wir“, sagte Richter. „Wir haben Mitarbeiter in der Behörde, an die sich betroffene Polizisten sofort wenden können. Jeder, der auch nur das Gefühl hat, im Auto verfolgt zu werden, sollte das sofort melden. Dann können wir etwas unternehmen“, erklärte er. Außerdem arbeite sein Präsidium im Kampf gegen die Clans mit einer großen Rechtsanwaltskanzlei zusammen, die jederzeit für die Polizisten erreichbar sei, wenn schnell und unbürokratisch rechtlicher Beistand benötigt werde. „Das hilft uns enorm“, so Richter.
„Wir nehmen diese Machtdemonstrationen der Clans sehr ernst“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU). Wichtig sei ihm, dass die Beamten nicht vor dem Problem zurückschreckten. „Meine Leute sollen wissen: Sie haben im Kampf gegen die Clankriminalität volle Rückendeckung, und zwar bis hoch zum Minister“, betonte Reul.
Verena Schäffer, Innenexpertin der Grünen, hält Drohungen wie die aus Essen berichteten für völlig inakzeptabel. Reul müsse dem Polizeipräsidium Essen dauerhaft ausreichend Polizisten zur Verfügung stellen, die gegen diese Form der Kriminalität vorgehen.
Nirgendwo in NRW sind kriminelle Clans stärker als in Essen. Fünf Polizisten, die täglich in diesem Milieu ermitteln, geben exklusive Einblicke in eine Parallelgesellschaft. Sie schildern eine Welt, die sich in keiner Kriminalstatistik finden lässt.
Ich scheiß hier auf alles. Hört ihr, ich scheiß hier auf alles!“Ohne Hemmungen brüllt die Frau mit Kopftuch, Gucci-Handtäschchen und teurer Armbanduhr die beiden jungen Polizisten an, die in Essen nahe eines Friedhofs auf einem Feldweg dicht an ihrem Streifenwagen mit geöffneten Türen stehen, um sich im Notfall sofort zurückziehen zu können. Die Frau gehört einem großen Essener Clan an, ist vermutlich die Frau eines der Bosse. Sie ist völlig aufgebracht, weil es die Beamten gewagt haben, eine Beerdigung zu stören. Hinter ihr stehen 15 bis 20 weitere Clanmitglieder auf einem Parkplatz. Die beiden Polizisten, Lisa Martini und Steffen Baumeister, sind bemüht, die Lage nicht eskalieren zu lassen. Es gelingt ihnen. Mit Mühe.
Der Vorfall, der sich erst vor Kurzem ereignete und den die Polizei gefilmt hat, spiegelt den rauen Alltag auf Essens Straßen wieder. Die beiden Beamten, die in dem Polizei-Video zu sehen sind, heißen in Wirklichkeit anders. Genau wie ihre Kollegen vom Streifendienst, der Einsatzhundertschaft und dem Leitungsstab, die im Folgenden exklusiv für unsere Redaktion vom täglichen Kampf gegen kriminelle Clans in ihrer Stadt berichten. Aus Sicherheitsgründen haben wir ihre Namen geändert. Die fünf Polizisten (vier Männer und eine Frau) sagen, dass sie weder beschönigen noch dramatisieren. Sie sagen einfach, was sie erleben und empfinden, wenn Clanmitglieder sie bis vor die Haustür verfolgen und sie in den Rückspiegel schauen müssen, weil sie befürchten, verfolgt zu werden. Ihre Schilderungen finden sich in keiner Pressemitteilung, in keinem Lagebild, in keiner Kriminalitätsstatistik.
Essen ist Clanland. Keine andere Stadt in Nordrhein-Westfalen leidet mehr unter diesen kriminellen Strukturen. Ganze Stadtteile sollen unter der Kontrolle der Clans stehen, sagen die Polizisten. Auf der Viehhofer Straße, der Altendorfer Straße und selbst rund um den Limbecker Platz mit dem bekannten Einkaufszentrum, also mitten in der Innenstadt, müsse man als normaler Bürger vorsichtig sein. „Das sind ihre Wohnzimmer. Dort kann ich nicht einfach so hergehen und machen, was ich möchte. Ich muss schon den Clanmitgliedern den Respekt zollen, den diese meinen erwarten zu können. In diesen Vierteln herrscht ein anderes Recht. Das sehen die Clans so. Das muss man so deutlich sagen“, erklärt Dominik Pelzer (51) von der Bereitschaftspolizei. „Mache ich das nicht, weil ich denke, ich bin hier in einer normalen deutschen Straße, muss ich mit Konsequenzen rechnen“, sagt er.
Rund um das Einkaufszentrum patrouillieren die Clans in Gruppen von fünf bis sechs jungen Männern, stecken so ihr Territorium ab. Junge Frauen müssen dort besonders vorsichtig sein. „Die werden nicht nur aufs Übelste angebaggert, sondern richtig heftig belästigt“, sagt Pelzer. Wer hier den Weg oder auch nur die Blicke von Clanmitgliedern kreuzt, bekommt Probleme. „Dann wird man definitiv sofort von denen angemacht. Wenn man dagegenhält, eskaliert die Situation, und sie zeigen dir dann, wer hier das Sagen hat, sprich: Sie wenden Gewalt an“, so der 51-Jährige.
Das große Kino hinter dem Einkaufszentrum betrachten die Clans mehr oder weniger als ihr Eigentum – zumindest benehmen sie sich so. „Die marschieren dort mit 15 bis 20 Leuten rein und setzen sich ohne zu bezahlen in die Vorstellungen“, so Pelzer. Er selbst sei einmal privat mit seinem Sohn in einer Filmvorführung gewesen, als plötzlich Clanmitglieder hereinkamen und randalierten. „Mein Sohn forderte mich auf, was dagegen zu tun“, so Pelzer. „Aber gegen diese Überzahl kannst du nichts machen als Einzelner. Hinzu kommt, dass der Handyempfang in dem Gebäude schlecht ist, was es erschwert, überhaupt Verstärkung zu rufen“, sagt er. Er sei mit seinem Sohn einfach gegangen. „Alles andere hätte zu einer Eskalation geführt.“
In den Essener Clanhochburgen treffen die Ermittler stets auf eine Mauer des Schweigens – selbst die Opfer hielten dicht. Besonders, wenn es um Schutzgelderpressung geht. „Wer in diesen Gegenden einen neuen Laden eröffnen will, wird mit Sicherheit von den Clans angesprochen, ob er nicht Schutz benötige“, sagt Martini. Wer ablehne, werde eingeschüchtert. Thomas Behrens vom Leitungsstab sagt, das sei für die Clans ein sehr einträgliches Geschäft. „Sie begehen eine Bedrohungshandlung und kassieren dann monatelang ab“, sagt er und nennt einen konkreten Fall. „Letztens hat ein Lokal neu aufgemacht, und noch am selben Tag kam eine libanesische Familie rein und sagte zum Besitzer: Pass mal auf, ab morgen stehen hier drei Geldspielautomaten von uns. Und wenn nicht, dann hast du ein Problem.“ Zwischen 2000 und 3000 Euro machen die Clans allein auf diese Weise im Monat – und das pro Automat.
Die Geschäftstreibenden lassen das geschehen oder geben auf. Manche werden aus ihren Läden gedrängt. Dasselbe finde in den Ämtern der Stadtverwaltung statt. Die Clanmitglieder seien dort sofort aufbrausend, schrien und drohten, wenn sie ihren Willen nicht bekämen, meist ihre Sozialleistungen. „Dann bekommen die Sachbearbeiter ein Bild von der Schule ihrer Kinder auf den Tisch gelegt“, sagt Pelzer. Diesen Druck halte niemand lange aus. Man müsse leider konstatieren: „Die Einschüchterung funktioniert. Das ist ein erfolgreiches Geschäftsmodell“, sagt der erfahrene Polizist. Er selbst möchte sich davon nicht ausnehmen. „Wenn ich zum Beispiel bei einer Verkehrskontrolle sehe, in einem Mercedes S-Klasse AMG sitzen vier Bodybuilder, verhalte ich mich anders. Das ist für mich keine normale Verkehrskontrolle. Ich lasse mich dadurch auch beeinflussen. Ganz klar. Das will ich nicht leugnen.“
Besonders diese Fahrzeugkontrollen gehören zum Alltag der Ermittler. Sie werden von Clans häufig sogar selbst provoziert, indem sie hupend, grölend und gestikulierend an Polizisten vorbeifahren – und zwar betont langsam. „Die wollen, dass wir sie anhalten, um uns ihre Macht zu demonstrieren und um uns bis aufs Blut reizen zu können“, sagt Steffen Baumeister. Das laufe dann wie folgt ab: Die Schutzpolizei, meistens zu zweit auf Streife, hält ein höherwertiges Auto an; vier bis fünf Männer sitzen darin. Die Polizisten wollen Fahrzeugschein und Führerschein sehen. „Der Fahrer sagt uns dann: Das kriegst du nicht. Guck dich mal um: Wir sind zu fünft und ihr zu zweit. Ihr wisst, was passiert, wenn wir aussteigen.“Ein anderes Mal wird der Führerschein vom Fahrer auf die Straße geschmissen. Das sei ebenfalls ein Machtspielchen. „Es geht darum, wer den jetzt aufhebt“, sagt er. Die Polizisten stehen in den Fällen vor der Frage: Halten wir dagegen? Oder machen wir einen Rückzieher? Sobald die Polizei in den Kofferraum schauen will oder nach wirtschaftlichen Verhältnissen fragt, rufen die Clanmitglieder einen Anwalt an. Die Einschüchterungsversuche nehmen weiter zu, „wenn sie merken, dass wir sie wegen irgendetwas drankriegen können“, sagt er. „Oder wir ihren Wagen beschlagnahmen könnten.“
Aber dazu kommt es nur selten. „Wir legen kaum noch ein Auto still“, sagt Polizistin Martini. „Von denen ist meist keiner so dumm und meldet das Auto auf sich selbst an. Denn dann könnten wir ja gegen ihn vorgehen, seine wirtschaftlichen Verhältnisse prüfen“, sagt die Schutzpolizistin. Angemeldet seien die Karossen häufig auf einen Dönerladen oder irgendwelche Scheinfirmen; oft sind sie aber auch nur gemietet für ein Wochenende. Da teilten sich dann vier, fünf Leute so ein Auto, sagt sie. Auch der Aufwand solcher Fahrzeugbeschlagnahmungen sei kaum gerechtfertigt. „Hinter solchen Maßnahmen hängt ein gewaltiger bürokratischer Rattenschwanz, der Personal bindet, das woanders dringender gebraucht wird. Und das alles nur, um das Auto am nächsten Tag wieder rausgeben zu müssen, weil ein Richter es so anordnet“, sagt sie. Oft seien es aber auch nur optisch gute Fahrzeuge. „Wenn man sich die genauer anschaut, stellt sich heraus, dass es Unfallfahrzeuge in schlechtem technischen Zustand und von geringem Wert sind“, sagt Baumeister. In der Szene sei mehr Schein als Sein.
Das Auftreten der Clanmitglieder in der Öffentlichkeit hängt stark von der Gruppenstärke ab. Je größer sie ist, umso aggressiver wird das Verhalten. „Trifft man einen alleine an, ist er umgänglich. Sobald sie zu mehreren sind, ist das sofort anders“, sagt Martini. Auch die Zahl der Polizisten, auf die die Clanmitglieder treffen, spielt eine Rolle. So wird einer Fußstreife mit nur zwei Beamten aggressiver gegenübergetreten als einer Streife mit Bereitschaftspolizisten einer Hundertschaft. Generell unterscheiden die Clans zwischen Streifenbeamten und den Einsatztrupps. Das Alter der Polizisten spielt eine entscheidende Rolle. „Bei erfahreneren Kollegen treten die anders auf. Vor denen haben sie mehr Respekt, sie denken, das ist noch alte Schule“, sagt Martini. „Die wissen, dass die Ausbildung der jüngeren Polizisten anders gewesen ist als bei unseren älteren Kollegen. Und sie nehmen uns deshalb weniger ernst“, sagt sie. Pelzer gibt ihr recht: „Wenn der einschreitende Polizist jünger ist als das kontrollierte Clanmitglied, fassen die das als Ehrverletzung auf.“
Die Wohnsituation scheint für die Clans keine Rolle zu spielen. Die meisten – vor allem die Auto-Poser – wohnen zu zehnt in 60 Quadratmeter kleinen, heruntergekommenen Wohnungen
und teilen sich sogar die Betten. „Da muss ich schon schmunzeln, wenn ich das sehe. Die Clanmitglieder fahren einen Audi R8 und wohnen in solchen Buden“, sagt Martini. Für sie und viele ihrer Kollegen ist das eine kleine Genugtuung. Den Clanangehörigen sind die Wohnumstände unangenehm. „Die wollen eigentlich nicht, dass wir das sehen“, sagt sie. Aber manchmal benötigen auch die Clans Hilfe von der Polizei. Das kommt sogar häufig vor. „Wenn bei denen eingebrochen wird, wenn im Keller ein Fahrrad gestohlen wird oder wenn die Nachbarn zu laut sind, melden die sich bei uns“, sagt Marvin Jörgens aus der Hundertschaft. Denn solche Angelegenheiten regele der Clan nicht selbst. „Sie benötigen uns allein schon für die Anzeigenaufnahme, weil sie die für die Versicherung brauchen. In diesen Momenten seien sie auch immer ganz freundlich.
Selbst bei Schlägereien untereinander verständigen die Clanmitglieder die Polizei. „Bei denen gibt es kein Mann gegen Mann. Es sind immer gleich 20 gegen 20, die aufeinander losgehen. Und das absichtlich immer in der Öffentlichkeit“, sagt Jörgens. „Wenn kein unbeteiligter Passant uns alarmiert, machen sie es selbst. Und das immer dann, wenn die Schlägerei außer Kontrolle geraten ist“, sagt er. Und außer Kontrolle geraten sie eigentlich immer.
Die Essener Polizei geht seit einem Jahr entschiedener gegen die Clans vor – so massiv wie kein anderes Polizeipräsidium in Deutschland. Dafür hat man eigens eine sogenannte Bao (Besondere Aufbau-Organisation) ins Leben gerufen. Seitdem wird gezielt und permanent Druck auf die Kriminellen ausgeübt. Durchsuchungen und Fahrzeugkontrollen im Milieu gehören zum Alltag. Der Kampf ist langfristig angelegt. „Die Strukturen lassen sich nicht von heute auf morgen zerschlagen. Dafür benötigen wir Jahre“, sagt Richter. In der Bao arbeiten rund 50 Beamte, die sich nur mit kriminellen Mitgliedern der Großfamilien mit arabischer Zuwanderungsgeschichte befassen. Von 2016 bis 2018 verzeichneten die Ermittler allein in Essen und Mülheim 2439 Straftaten im Bereich Clankriminalität, vor allem Bedrohung und Nötigung, gefährliche Körperverletzung und Raub. Weibliche Polizisten behandeln die Clans wie Luft. Ihre Ansprachen fassen sie als Ehrverletzung auf. Martini berichtet von einer normalen Verkehrskontrolle, bei der sie die Gesprächsführung hatte. „Der Typ guckte mich gar nicht an. Auf meine Fragen antwortete er nur meinem männlichen Kollegen. Sie bringen uns Frauen nicht einmal den geringsten Respekt entgegen“, sagt sie. Ihr Kollege reagierte in dem Fall sofort. Er drehte sich weg und hörte nicht zu, was das Clanmitglied zu sagen hatte. „Er war dann gezwungen mit mir zu sprechen, weil er was von uns wollte, nämlich, dass wir den Unfall aufnehmen“, so Martini. „Ich hatte gedroht, dass wir sonst fahren.“
Der Aufstieg der kriminellen arabischen Clans in Essen ging – wie auch in anderen betroffenen Städten im Ruhrgebiet – einher mit dem stetigen wirtschaftlichen Abstieg der Stadt in den 80er Jahren. Ganze Straßenzüge mit Wohnungen waren Anfang der 90er Jahre für einen Spottpreis zu haben. Familienverbände, deren Wurzeln im Gebiet des Irak liegen und die man inzwischen als libanesische und arabische Clans kennt, kauften die Häuser auf. Obwohl die Mitglieder damals in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten und nicht über nennenswerte Einkünfte verfügten, konnten sie viele dieser Immobilien erwerben. Der Polizei gelang es damals nicht, die Finanzquellen aufzuspüren. Der Wert der Wohnungen stieg mit den Jahren erheblich, während sich die Stadt allmählich vom wirtschaftlichen Niedergang erholte. Mit dem finanziellen Potenzial bauten die Clans ihre Strukturen aus und gewannen an Einfluss im Milieu.
Martini ist viel in der Essener Nordstadt auf Streife, in Altendorf, am Katernberger Platz – tiefstes Clangebiet. Oft wird sie dort zu Ruhestörungen gerufen. „Wenn wir in der Gegend in ein Haus müssen und wieder rauskommen, stehen zehn Leute um unseren Streifenwagen“, berichtet sie. Das sei ein beklemmendes Gefühl, wenn man plötzlich von so vielen Männern umringt werde. „Aber die machen nichts – außer, dass sie ein paar blöde, teils sexistische Kommentare abgeben“, sagt sie. Eigentlich ist tagsüber von den Clans nicht viel zu sehen auf den Straßen. „Dann schlafen sie. Die arbeiten und leben nachts, das sind reine Nachtmenschen“, sagt Jörgens. Trotzdem ist ihre Macht auf den Straßen allgegenwärtig. Das zeigt sich in normalen Alltagssituationen wie vor kurzem auf der Altendorfer Straße, wo Martini ein Auto aufschrieb, das im Halteverbot stand. Dabei beobachtete sie vier arabisch aussehende Jugendliche, die demonstrativ nebeneinander die Straße entlangschlenderten, an der sich Imbisse, Teestuben, Wettbuden und Läden mit gebrauchten Handys in der Auslage aneinanderreihen. Ein älterer Mann kam den Heranwachsenden entgegen und wich ihnen aus. Wie selbstverständlich trat er auf die Straße und schlug einen Bogen um sie. Den Blickkontakt mied er, die Jugendlichen hätten das als Provokation auffassen können. „Daran sieht man, wie mächtig die Clans hier sind“, sagt sie. Alltag auf Essens Straßen.
Bei jeder Polizeikontrolle bauen sich die im Fitnessstudio gestählten Muskelpakete demonstrativ vor den Polizisten auf – ohne Distanz zu wahren. „Manche stehen so aggressiv vor einem, dass sie vor Wut in ihre Wangeninnenwände beißen, bis es blutet. Und das Blut spucken sie uns dann vor die Füße“, sagt Pelzer. „Sie wollen sehen, ob wir Eier in der Hose haben“, betont er. Das sei immer schwierig zu handhaben. „Weichen wir zurück, feiern die das als Sieg. Dann wird es bei der nächsten Kontrolle noch heftiger. Geben wir hingegen Kontra, kann die Situation eskalieren“, sagt er. Daher sei es für einen Polizisten wichtig, im Hinterkopf zu haben, möglichst nichts zu tun, was das Ehrgefühl der Clanmitglieder verletzen könnte. „Dann kann man das Gespräch in die richtige Richtung lenken.“Manchmal jedenfalls.
Martini wünscht sich ein grundsätzlich robusteres Auftreten der Polizei gegen Clans. „Ich persönlich habe festgestellt, dass die Clanmitglieder nachgeben, wenn wir als Polizei auf Konfrontation gehen“, sagt sie. Zu lange, kritisiert sie, habe die Politik nicht hinter der Polizei gestanden. „Wir mussten immer aufpassen, nicht zu aggressiv zu sein. Das hat man irgendwie im Hinterkopf. Dann ziehe ich mich lieber zurück, wenn es eng wird, aber dafür bin ich dann hinterher nicht der Gelackmeierte“, sagt die junge Polizistin. Dieses jahrelange Kuschen vor den Clans habe auch dazu beigetragen, dass diese so stark werden konnten. Unter ihrem Polizeipräsidenten Frank Richter spüre sie jedoch ein uneingeschränktes Vertrauen.
Die Clans haben in Essen offenbar Behörden infiltriert. „Ihre Struktur kann nur existieren, wenn sie an den richtigen Stellen die richtigen Leute sitzen haben“, sagt Martini. „Das heißt: in Autohäusern, Zulassungsstellen und Stadtverwaltungen. Ihre Autoverschiebungen ins Ausland können nur funktionieren, wenn sie an entscheidenden Stellen Kontakte haben“, meint sie. Zudem würden Clans versuchen, Familienmitglieder in polizeilichen Bereichen und im Justizappararat zu platzieren. Selbst wenn den Behörden bei ihren Mitarbeitern verdächtige Nachnamen auffielen, sei es schwer, etwas dagegen zu tun. „Man kann nicht alle Clanmitglieder unter Generalverdacht stellen“, sagt sie.
Zwei Tage nach dem Vorfall auf dem Essener Friedhof ruft die Frau, die die Beamten so massiv beleidigt hat, selbst bei der Polizei an – wegen Ruhestörung. Nachbarn seien lautstark in Streit geraten. Die Polizei soll für Ruhe sorgen. Zufällig hat Steffen Baumeister Dienst und nimmt das Gespräch entgegen. „Das sind besondere Momente, die man nicht näher beschreiben muss“, sagt er. „Natürlich sind wir gekommen. Wir sind schließlich für alle Bürger da – auch für die Clans.“
„Manche stehen so aggressiv vor einem, dass sie vor Wut in ihre Wangeninnenwände beißen, bis es blutet.“