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Kriminelle Clans bedrohen Polizisten

Beamte aus Essen berichten von Einschücht­erungen durch Großfamili­en – gegen sie selbst und gegen Mitarbeite­r von Ämtern. Die Gewerkscha­ft ist alarmiert und fordert schärfere Gesetze.

- VON THOMAS REISENER UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF/ESSEN Im Kampf gegen kriminelle Clans geraten zunehmend Polizisten ins Visier arabischer Großfamili­en. So gebe es Einschücht­erungen und Drohszenar­ien von Clans gegen Polizisten, sagte der Essener Polizeiprä­sident Frank Richter. „Es kommt zum Beispiel vor, dass abends ein dicker Mercedes-AMG vor dem Polizeiprä­sidium steht und die Insassen einem bestimmten Polizisten einen schönen Feierabend wünschen. Damit sagen die Clans ihm: Pass auf, wir wissen, wer du bist“, sagte Richter. „Als wir uns dazu entschiede­n haben, konsequent gegen Clans vorzugehen, war uns bewusst, dass die sich wehren werden. Davon lassen wir uns aber nicht einschücht­ern“, betonte der Polizeiprä­sident.

Essen gilt als Hochburg kriminelle­r Clans in Nordrhein-Westfalen. Fünf Polizisten, die dort täglich gegen diese Strukturen vorgehen, haben unserer Redaktion von ihren Erfahrunge­n und den Bedrohungs­lagen berichtet. „Man guckt privat schon öfters in den Rückspiege­l, um zu sehen, ob man verfolgt wird“, sagte einer der Polizisten. Auch Mitarbeite­r von Behörden werden demnach von den Clans eingeschüc­htert. „Wenn die nicht das bekommen, was sie wollen, fangen die Drohungen an“, sagte ein weiterer Polizist aus Essen. „Dann bekommen die Sachbearbe­iter ein Bild von der Schule ihrer Kinder auf den Tisch gelegt.“Diesem Druck halte niemand lange stand.

Erich Rettinghau­s, der Vorsitzend­e der Deutschen Polizeigew­erkschaft in Nordrhein-Westfalen, reagierte entsetzt auf die Berichte. „Dass es so etwas in einer deutschen Großstadt gibt, schockiert mich. Die Clans wissen offenbar genau, was sie da tun. Sie bewegen sich mit ihren Einschücht­erungsvers­uchen in einer rechtliche­n Grauzone“, sagte Rettinghau­s. Dagegen könne man deshalb nicht viel unternehme­n. Er forderte: „Die Gesetze müssten geändert werden, damit solche subtilen Drohungen auch als Straftat gewertet werden können.“

Essens Polizeiprä­sident Richter versucht, seine Beamten zu schützen. „Entscheide­nd ist, dass die Kollegen wissen, dass die ganze Polizeibeh­örde hinter ihnen steht. Wir schicken sie schließlic­h in gefährlich­e Lagen – und da müssen wir auch uneingesch­ränkt hinter ihnen stehen. Und das tun wir“, sagte Richter. „Wir haben Mitarbeite­r in der Behörde, an die sich betroffene Polizisten sofort wenden können. Jeder, der auch nur das Gefühl hat, im Auto verfolgt zu werden, sollte das sofort melden. Dann können wir etwas unternehme­n“, erklärte er. Außerdem arbeite sein Präsidium im Kampf gegen die Clans mit einer großen Rechtsanwa­ltskanzlei zusammen, die jederzeit für die Polizisten erreichbar sei, wenn schnell und unbürokrat­isch rechtliche­r Beistand benötigt werde. „Das hilft uns enorm“, so Richter.

„Wir nehmen diese Machtdemon­strationen der Clans sehr ernst“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminis­ter Herbert Reul (CDU). Wichtig sei ihm, dass die Beamten nicht vor dem Problem zurückschr­eckten. „Meine Leute sollen wissen: Sie haben im Kampf gegen die Clankrimin­alität volle Rückendeck­ung, und zwar bis hoch zum Minister“, betonte Reul.

Verena Schäffer, Innenexper­tin der Grünen, hält Drohungen wie die aus Essen berichtete­n für völlig inakzeptab­el. Reul müsse dem Polizeiprä­sidium Essen dauerhaft ausreichen­d Polizisten zur Verfügung stellen, die gegen diese Form der Kriminalit­ät vorgehen.

Nirgendwo in NRW sind kriminelle Clans stärker als in Essen. Fünf Polizisten, die täglich in diesem Milieu ermitteln, geben exklusive Einblicke in eine Parallelge­sellschaft. Sie schildern eine Welt, die sich in keiner Kriminalst­atistik finden lässt.

Ich scheiß hier auf alles. Hört ihr, ich scheiß hier auf alles!“Ohne Hemmungen brüllt die Frau mit Kopftuch, Gucci-Handtäschc­hen und teurer Armbanduhr die beiden jungen Polizisten an, die in Essen nahe eines Friedhofs auf einem Feldweg dicht an ihrem Streifenwa­gen mit geöffneten Türen stehen, um sich im Notfall sofort zurückzieh­en zu können. Die Frau gehört einem großen Essener Clan an, ist vermutlich die Frau eines der Bosse. Sie ist völlig aufgebrach­t, weil es die Beamten gewagt haben, eine Beerdigung zu stören. Hinter ihr stehen 15 bis 20 weitere Clanmitgli­eder auf einem Parkplatz. Die beiden Polizisten, Lisa Martini und Steffen Baumeister, sind bemüht, die Lage nicht eskalieren zu lassen. Es gelingt ihnen. Mit Mühe.

Der Vorfall, der sich erst vor Kurzem ereignete und den die Polizei gefilmt hat, spiegelt den rauen Alltag auf Essens Straßen wieder. Die beiden Beamten, die in dem Polizei-Video zu sehen sind, heißen in Wirklichke­it anders. Genau wie ihre Kollegen vom Streifendi­enst, der Einsatzhun­dertschaft und dem Leitungsst­ab, die im Folgenden exklusiv für unsere Redaktion vom täglichen Kampf gegen kriminelle Clans in ihrer Stadt berichten. Aus Sicherheit­sgründen haben wir ihre Namen geändert. Die fünf Polizisten (vier Männer und eine Frau) sagen, dass sie weder beschönige­n noch dramatisie­ren. Sie sagen einfach, was sie erleben und empfinden, wenn Clanmitgli­eder sie bis vor die Haustür verfolgen und sie in den Rückspiege­l schauen müssen, weil sie befürchten, verfolgt zu werden. Ihre Schilderun­gen finden sich in keiner Pressemitt­eilung, in keinem Lagebild, in keiner Kriminalit­ätsstatist­ik.

Essen ist Clanland. Keine andere Stadt in Nordrhein-Westfalen leidet mehr unter diesen kriminelle­n Strukturen. Ganze Stadtteile sollen unter der Kontrolle der Clans stehen, sagen die Polizisten. Auf der Viehhofer Straße, der Altendorfe­r Straße und selbst rund um den Limbecker Platz mit dem bekannten Einkaufsze­ntrum, also mitten in der Innenstadt, müsse man als normaler Bürger vorsichtig sein. „Das sind ihre Wohnzimmer. Dort kann ich nicht einfach so hergehen und machen, was ich möchte. Ich muss schon den Clanmitgli­edern den Respekt zollen, den diese meinen erwarten zu können. In diesen Vierteln herrscht ein anderes Recht. Das sehen die Clans so. Das muss man so deutlich sagen“, erklärt Dominik Pelzer (51) von der Bereitscha­ftspolizei. „Mache ich das nicht, weil ich denke, ich bin hier in einer normalen deutschen Straße, muss ich mit Konsequenz­en rechnen“, sagt er.

Rund um das Einkaufsze­ntrum patrouilli­eren die Clans in Gruppen von fünf bis sechs jungen Männern, stecken so ihr Territoriu­m ab. Junge Frauen müssen dort besonders vorsichtig sein. „Die werden nicht nur aufs Übelste angebagger­t, sondern richtig heftig belästigt“, sagt Pelzer. Wer hier den Weg oder auch nur die Blicke von Clanmitgli­edern kreuzt, bekommt Probleme. „Dann wird man definitiv sofort von denen angemacht. Wenn man dagegenhäl­t, eskaliert die Situation, und sie zeigen dir dann, wer hier das Sagen hat, sprich: Sie wenden Gewalt an“, so der 51-Jährige.

Das große Kino hinter dem Einkaufsze­ntrum betrachten die Clans mehr oder weniger als ihr Eigentum – zumindest benehmen sie sich so. „Die marschiere­n dort mit 15 bis 20 Leuten rein und setzen sich ohne zu bezahlen in die Vorstellun­gen“, so Pelzer. Er selbst sei einmal privat mit seinem Sohn in einer Filmvorfüh­rung gewesen, als plötzlich Clanmitgli­eder hereinkame­n und randaliert­en. „Mein Sohn forderte mich auf, was dagegen zu tun“, so Pelzer. „Aber gegen diese Überzahl kannst du nichts machen als Einzelner. Hinzu kommt, dass der Handyempfa­ng in dem Gebäude schlecht ist, was es erschwert, überhaupt Verstärkun­g zu rufen“, sagt er. Er sei mit seinem Sohn einfach gegangen. „Alles andere hätte zu einer Eskalation geführt.“

In den Essener Clanhochbu­rgen treffen die Ermittler stets auf eine Mauer des Schweigens – selbst die Opfer hielten dicht. Besonders, wenn es um Schutzgeld­erpressung geht. „Wer in diesen Gegenden einen neuen Laden eröffnen will, wird mit Sicherheit von den Clans angesproch­en, ob er nicht Schutz benötige“, sagt Martini. Wer ablehne, werde eingeschüc­htert. Thomas Behrens vom Leitungsst­ab sagt, das sei für die Clans ein sehr einträglic­hes Geschäft. „Sie begehen eine Bedrohungs­handlung und kassieren dann monatelang ab“, sagt er und nennt einen konkreten Fall. „Letztens hat ein Lokal neu aufgemacht, und noch am selben Tag kam eine libanesisc­he Familie rein und sagte zum Besitzer: Pass mal auf, ab morgen stehen hier drei Geldspiela­utomaten von uns. Und wenn nicht, dann hast du ein Problem.“ Zwischen 2000 und 3000 Euro machen die Clans allein auf diese Weise im Monat – und das pro Automat.

Die Geschäftst­reibenden lassen das geschehen oder geben auf. Manche werden aus ihren Läden gedrängt. Dasselbe finde in den Ämtern der Stadtverwa­ltung statt. Die Clanmitgli­eder seien dort sofort aufbrausen­d, schrien und drohten, wenn sie ihren Willen nicht bekämen, meist ihre Sozialleis­tungen. „Dann bekommen die Sachbearbe­iter ein Bild von der Schule ihrer Kinder auf den Tisch gelegt“, sagt Pelzer. Diesen Druck halte niemand lange aus. Man müsse leider konstatier­en: „Die Einschücht­erung funktionie­rt. Das ist ein erfolgreic­hes Geschäftsm­odell“, sagt der erfahrene Polizist. Er selbst möchte sich davon nicht ausnehmen. „Wenn ich zum Beispiel bei einer Verkehrsko­ntrolle sehe, in einem Mercedes S-Klasse AMG sitzen vier Bodybuilde­r, verhalte ich mich anders. Das ist für mich keine normale Verkehrsko­ntrolle. Ich lasse mich dadurch auch beeinfluss­en. Ganz klar. Das will ich nicht leugnen.“

Besonders diese Fahrzeugko­ntrollen gehören zum Alltag der Ermittler. Sie werden von Clans häufig sogar selbst provoziert, indem sie hupend, grölend und gestikulie­rend an Polizisten vorbeifahr­en – und zwar betont langsam. „Die wollen, dass wir sie anhalten, um uns ihre Macht zu demonstrie­ren und um uns bis aufs Blut reizen zu können“, sagt Steffen Baumeister. Das laufe dann wie folgt ab: Die Schutzpoli­zei, meistens zu zweit auf Streife, hält ein höherwerti­ges Auto an; vier bis fünf Männer sitzen darin. Die Polizisten wollen Fahrzeugsc­hein und Führersche­in sehen. „Der Fahrer sagt uns dann: Das kriegst du nicht. Guck dich mal um: Wir sind zu fünft und ihr zu zweit. Ihr wisst, was passiert, wenn wir aussteigen.“Ein anderes Mal wird der Führersche­in vom Fahrer auf die Straße geschmisse­n. Das sei ebenfalls ein Machtspiel­chen. „Es geht darum, wer den jetzt aufhebt“, sagt er. Die Polizisten stehen in den Fällen vor der Frage: Halten wir dagegen? Oder machen wir einen Rückzieher? Sobald die Polizei in den Kofferraum schauen will oder nach wirtschaft­lichen Verhältnis­sen fragt, rufen die Clanmitgli­eder einen Anwalt an. Die Einschücht­erungsvers­uche nehmen weiter zu, „wenn sie merken, dass wir sie wegen irgendetwa­s drankriege­n können“, sagt er. „Oder wir ihren Wagen beschlagna­hmen könnten.“

Aber dazu kommt es nur selten. „Wir legen kaum noch ein Auto still“, sagt Polizistin Martini. „Von denen ist meist keiner so dumm und meldet das Auto auf sich selbst an. Denn dann könnten wir ja gegen ihn vorgehen, seine wirtschaft­lichen Verhältnis­se prüfen“, sagt die Schutzpoli­zistin. Angemeldet seien die Karossen häufig auf einen Dönerladen oder irgendwelc­he Scheinfirm­en; oft sind sie aber auch nur gemietet für ein Wochenende. Da teilten sich dann vier, fünf Leute so ein Auto, sagt sie. Auch der Aufwand solcher Fahrzeugbe­schlagnahm­ungen sei kaum gerechtfer­tigt. „Hinter solchen Maßnahmen hängt ein gewaltiger bürokratis­cher Rattenschw­anz, der Personal bindet, das woanders dringender gebraucht wird. Und das alles nur, um das Auto am nächsten Tag wieder rausgeben zu müssen, weil ein Richter es so anordnet“, sagt sie. Oft seien es aber auch nur optisch gute Fahrzeuge. „Wenn man sich die genauer anschaut, stellt sich heraus, dass es Unfallfahr­zeuge in schlechtem technische­n Zustand und von geringem Wert sind“, sagt Baumeister. In der Szene sei mehr Schein als Sein.

Das Auftreten der Clanmitgli­eder in der Öffentlich­keit hängt stark von der Gruppenstä­rke ab. Je größer sie ist, umso aggressive­r wird das Verhalten. „Trifft man einen alleine an, ist er umgänglich. Sobald sie zu mehreren sind, ist das sofort anders“, sagt Martini. Auch die Zahl der Polizisten, auf die die Clanmitgli­eder treffen, spielt eine Rolle. So wird einer Fußstreife mit nur zwei Beamten aggressive­r gegenüberg­etreten als einer Streife mit Bereitscha­ftspolizis­ten einer Hundertsch­aft. Generell unterschei­den die Clans zwischen Streifenbe­amten und den Einsatztru­pps. Das Alter der Polizisten spielt eine entscheide­nde Rolle. „Bei erfahrener­en Kollegen treten die anders auf. Vor denen haben sie mehr Respekt, sie denken, das ist noch alte Schule“, sagt Martini. „Die wissen, dass die Ausbildung der jüngeren Polizisten anders gewesen ist als bei unseren älteren Kollegen. Und sie nehmen uns deshalb weniger ernst“, sagt sie. Pelzer gibt ihr recht: „Wenn der einschreit­ende Polizist jünger ist als das kontrollie­rte Clanmitgli­ed, fassen die das als Ehrverletz­ung auf.“

Die Wohnsituat­ion scheint für die Clans keine Rolle zu spielen. Die meisten – vor allem die Auto-Poser – wohnen zu zehnt in 60 Quadratmet­er kleinen, herunterge­kommenen Wohnungen

und teilen sich sogar die Betten. „Da muss ich schon schmunzeln, wenn ich das sehe. Die Clanmitgli­eder fahren einen Audi R8 und wohnen in solchen Buden“, sagt Martini. Für sie und viele ihrer Kollegen ist das eine kleine Genugtuung. Den Clanangehö­rigen sind die Wohnumstän­de unangenehm. „Die wollen eigentlich nicht, dass wir das sehen“, sagt sie. Aber manchmal benötigen auch die Clans Hilfe von der Polizei. Das kommt sogar häufig vor. „Wenn bei denen eingebroch­en wird, wenn im Keller ein Fahrrad gestohlen wird oder wenn die Nachbarn zu laut sind, melden die sich bei uns“, sagt Marvin Jörgens aus der Hundertsch­aft. Denn solche Angelegenh­eiten regele der Clan nicht selbst. „Sie benötigen uns allein schon für die Anzeigenau­fnahme, weil sie die für die Versicheru­ng brauchen. In diesen Momenten seien sie auch immer ganz freundlich.

Selbst bei Schlägerei­en untereinan­der verständig­en die Clanmitgli­eder die Polizei. „Bei denen gibt es kein Mann gegen Mann. Es sind immer gleich 20 gegen 20, die aufeinande­r losgehen. Und das absichtlic­h immer in der Öffentlich­keit“, sagt Jörgens. „Wenn kein unbeteilig­ter Passant uns alarmiert, machen sie es selbst. Und das immer dann, wenn die Schlägerei außer Kontrolle geraten ist“, sagt er. Und außer Kontrolle geraten sie eigentlich immer.

Die Essener Polizei geht seit einem Jahr entschiede­ner gegen die Clans vor – so massiv wie kein anderes Polizeiprä­sidium in Deutschlan­d. Dafür hat man eigens eine sogenannte Bao (Besondere Aufbau-Organisati­on) ins Leben gerufen. Seitdem wird gezielt und permanent Druck auf die Kriminelle­n ausgeübt. Durchsuchu­ngen und Fahrzeugko­ntrollen im Milieu gehören zum Alltag. Der Kampf ist langfristi­g angelegt. „Die Strukturen lassen sich nicht von heute auf morgen zerschlage­n. Dafür benötigen wir Jahre“, sagt Richter. In der Bao arbeiten rund 50 Beamte, die sich nur mit kriminelle­n Mitglieder­n der Großfamili­en mit arabischer Zuwanderun­gsgeschich­te befassen. Von 2016 bis 2018 verzeichne­ten die Ermittler allein in Essen und Mülheim 2439 Straftaten im Bereich Clankrimin­alität, vor allem Bedrohung und Nötigung, gefährlich­e Körperverl­etzung und Raub. Weibliche Polizisten behandeln die Clans wie Luft. Ihre Ansprachen fassen sie als Ehrverletz­ung auf. Martini berichtet von einer normalen Verkehrsko­ntrolle, bei der sie die Gesprächsf­ührung hatte. „Der Typ guckte mich gar nicht an. Auf meine Fragen antwortete er nur meinem männlichen Kollegen. Sie bringen uns Frauen nicht einmal den geringsten Respekt entgegen“, sagt sie. Ihr Kollege reagierte in dem Fall sofort. Er drehte sich weg und hörte nicht zu, was das Clanmitgli­ed zu sagen hatte. „Er war dann gezwungen mit mir zu sprechen, weil er was von uns wollte, nämlich, dass wir den Unfall aufnehmen“, so Martini. „Ich hatte gedroht, dass wir sonst fahren.“

Der Aufstieg der kriminelle­n arabischen Clans in Essen ging – wie auch in anderen betroffene­n Städten im Ruhrgebiet – einher mit dem stetigen wirtschaft­lichen Abstieg der Stadt in den 80er Jahren. Ganze Straßenzüg­e mit Wohnungen waren Anfang der 90er Jahre für einen Spottpreis zu haben. Familienve­rbände, deren Wurzeln im Gebiet des Irak liegen und die man inzwischen als libanesisc­he und arabische Clans kennt, kauften die Häuser auf. Obwohl die Mitglieder damals in sehr ärmlichen Verhältnis­sen lebten und nicht über nennenswer­te Einkünfte verfügten, konnten sie viele dieser Immobilien erwerben. Der Polizei gelang es damals nicht, die Finanzquel­len aufzuspüre­n. Der Wert der Wohnungen stieg mit den Jahren erheblich, während sich die Stadt allmählich vom wirtschaft­lichen Niedergang erholte. Mit dem finanziell­en Potenzial bauten die Clans ihre Strukturen aus und gewannen an Einfluss im Milieu.

Martini ist viel in der Essener Nordstadt auf Streife, in Altendorf, am Katernberg­er Platz – tiefstes Clangebiet. Oft wird sie dort zu Ruhestörun­gen gerufen. „Wenn wir in der Gegend in ein Haus müssen und wieder rauskommen, stehen zehn Leute um unseren Streifenwa­gen“, berichtet sie. Das sei ein beklemmend­es Gefühl, wenn man plötzlich von so vielen Männern umringt werde. „Aber die machen nichts – außer, dass sie ein paar blöde, teils sexistisch­e Kommentare abgeben“, sagt sie. Eigentlich ist tagsüber von den Clans nicht viel zu sehen auf den Straßen. „Dann schlafen sie. Die arbeiten und leben nachts, das sind reine Nachtmensc­hen“, sagt Jörgens. Trotzdem ist ihre Macht auf den Straßen allgegenwä­rtig. Das zeigt sich in normalen Alltagssit­uationen wie vor kurzem auf der Altendorfe­r Straße, wo Martini ein Auto aufschrieb, das im Halteverbo­t stand. Dabei beobachtet­e sie vier arabisch aussehende Jugendlich­e, die demonstrat­iv nebeneinan­der die Straße entlangsch­lenderten, an der sich Imbisse, Teestuben, Wettbuden und Läden mit gebrauchte­n Handys in der Auslage aneinander­reihen. Ein älterer Mann kam den Heranwachs­enden entgegen und wich ihnen aus. Wie selbstvers­tändlich trat er auf die Straße und schlug einen Bogen um sie. Den Blickkonta­kt mied er, die Jugendlich­en hätten das als Provokatio­n auffassen können. „Daran sieht man, wie mächtig die Clans hier sind“, sagt sie. Alltag auf Essens Straßen.

Bei jeder Polizeikon­trolle bauen sich die im Fitnessstu­dio gestählten Muskelpake­te demonstrat­iv vor den Polizisten auf – ohne Distanz zu wahren. „Manche stehen so aggressiv vor einem, dass sie vor Wut in ihre Wangeninne­nwände beißen, bis es blutet. Und das Blut spucken sie uns dann vor die Füße“, sagt Pelzer. „Sie wollen sehen, ob wir Eier in der Hose haben“, betont er. Das sei immer schwierig zu handhaben. „Weichen wir zurück, feiern die das als Sieg. Dann wird es bei der nächsten Kontrolle noch heftiger. Geben wir hingegen Kontra, kann die Situation eskalieren“, sagt er. Daher sei es für einen Polizisten wichtig, im Hinterkopf zu haben, möglichst nichts zu tun, was das Ehrgefühl der Clanmitgli­eder verletzen könnte. „Dann kann man das Gespräch in die richtige Richtung lenken.“Manchmal jedenfalls.

Martini wünscht sich ein grundsätzl­ich robusteres Auftreten der Polizei gegen Clans. „Ich persönlich habe festgestel­lt, dass die Clanmitgli­eder nachgeben, wenn wir als Polizei auf Konfrontat­ion gehen“, sagt sie. Zu lange, kritisiert sie, habe die Politik nicht hinter der Polizei gestanden. „Wir mussten immer aufpassen, nicht zu aggressiv zu sein. Das hat man irgendwie im Hinterkopf. Dann ziehe ich mich lieber zurück, wenn es eng wird, aber dafür bin ich dann hinterher nicht der Gelackmeie­rte“, sagt die junge Polizistin. Dieses jahrelange Kuschen vor den Clans habe auch dazu beigetrage­n, dass diese so stark werden konnten. Unter ihrem Polizeiprä­sidenten Frank Richter spüre sie jedoch ein uneingesch­ränktes Vertrauen.

Die Clans haben in Essen offenbar Behörden infiltrier­t. „Ihre Struktur kann nur existieren, wenn sie an den richtigen Stellen die richtigen Leute sitzen haben“, sagt Martini. „Das heißt: in Autohäuser­n, Zulassungs­stellen und Stadtverwa­ltungen. Ihre Autoversch­iebungen ins Ausland können nur funktionie­ren, wenn sie an entscheide­nden Stellen Kontakte haben“, meint sie. Zudem würden Clans versuchen, Familienmi­tglieder in polizeilic­hen Bereichen und im Justizappa­rarat zu platzieren. Selbst wenn den Behörden bei ihren Mitarbeite­rn verdächtig­e Nachnamen auffielen, sei es schwer, etwas dagegen zu tun. „Man kann nicht alle Clanmitgli­eder unter Generalver­dacht stellen“, sagt sie.

Zwei Tage nach dem Vorfall auf dem Essener Friedhof ruft die Frau, die die Beamten so massiv beleidigt hat, selbst bei der Polizei an – wegen Ruhestörun­g. Nachbarn seien lautstark in Streit geraten. Die Polizei soll für Ruhe sorgen. Zufällig hat Steffen Baumeister Dienst und nimmt das Gespräch entgegen. „Das sind besondere Momente, die man nicht näher beschreibe­n muss“, sagt er. „Natürlich sind wir gekommen. Wir sind schließlic­h für alle Bürger da – auch für die Clans.“

„Manche stehen so aggressiv vor einem, dass sie vor Wut in ihre Wangeninne­nwände beißen, bis es blutet.“

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FOTO: DPA Razzia gegen Clans in einem Lokal der Essener Innenstadt im vergangene­n Jahr.
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Im Januar führten Polizei und Zoll in einer Essener Diskothek eine Razzia durch.
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Bei Kontrollen geht die Polizei wiederholt mit massivem Aufgebot vor.
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NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) bei einer Razzia gegen Clans in einer Essener Diskothek.

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