Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Nüchternhe­it tut gut

Gefühle verschaffe­n Aufmerksam­keit. Probleme löst man besser nüchtern.

- DOROTHEE KRINGS

Nüchterne Menschen werden oft leichtfert­ig als langweilig betrachtet, weil sie das, was sie sagen, für sich sprechen lassen und nicht mit persönlich­en Gefühlen verstärken. Dagegen bringen expressive Emotionen Aufmerksam­keit. Und weil immer mehr Menschen dringend wahrgenomm­en werden wollen – auch weil Selbstverm­arktung heute wie selbstvers­tändlich gefordert wird –, wächst das Erregungsp­otenzial. Ein politisch besonders relevantes Gefühl ist die Angst. Und es gibt Wissenscha­ftler, die die Konjunktur von Angstgefüh­len in der deutschen Öffentlich­keit seit Jahren beobachten und daraus eine Angst-Geschichte der Bundesrepu­blik ableiten. Demnach überwog in der Nachkriegs­zeit die Angst vor äußeren Angriffen etwa durch die Russen, doch waren die Menschen eher darum bemüht, ihre Ängste nicht offen zu zeigen. Mit den 70er Jahren kam es dann zu einer Befreiung auch der Angstgefüh­le, Menschen wollten loswerden, was sie im Inneren bedrängte – und trugen es nach außen.

Heute gibt es beides: persönlich­e Ängste, etwa vor dem Versagen, wie die Angst vor äußeren Katastroph­en. Die einen fühlen sich vom Klimawande­l bedroht, die anderen von Migration. Und dazu fühlt sich jeder von den anderen bedroht, die ihre Ängste nicht teilen. Nun steckt in den meisten Befürchtun­gen ein wahrer Kern, und es wäre naiv, berechtigt­e Skepsis als „German Angst“abzutun. Doch kann es helfen, die Fakten erst einmal gefühlsber­einigt zur Kenntnis zu nehmen, zu überdenken, sich dazu nüchtern zu äußern. Das mag langweilig wirken. Das mag sich im Gefühlsget­öse unserer Tage schwer durchsetze­n. Doch die Angstgesch­ichte Deutschlan­ds zeigt, dass auch Gefühligke­it Aufs und Abs kennt. Ein wenig mehr langweilig­e Nüchternhe­it täte gerade gut.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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