Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Geschichte der Bienen
Und da stand sie. Vielleicht sorgte meine Schwäche, diese schlecht verborgene Verletzlichkeit an jenem Tag dafür, dass Thilda sich zu mir vorwagte. Ich war nicht länger der geheimnisvolle Zugezogene, der beim Herrn Professor mit irgendetwas Abgehobenem und Unverständlichem beschäftigt war. Denn sie lachte nicht. Sie reichte mir ihre behandschuhte Hand, knickste und bedankte sich für den „äh… fabelhaften“Vortrag. Im Hintergrund giggelten ihre Freundinnen noch immer. Doch ihr Gekicher verschwand für mich, sie verschwanden, ich sah auch Rahm nicht mehr, nur ihre Hand. Sie verhöhnte mich nicht, sie lachte nicht über mich, und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Die Augen dieses bezaubernden Wesens glitzerten, sie standen weit auseinander, waren so empfänglich für die Welt und das Leben, in erster Linie aber für mich. Nicht auszudenken, für mich! Nie zuvor hatte mich eine junge Frau so angesehen, es war ein Blick, der mir sagte, dass sie willens war, sich vollkommen hinzugeben, mir alles zu geben, und zwar nur mir, denn sie sah keinen der Umstehenden so an wie mich. Bei dem Gedanken begannen meine Knie sofort wieder zu zittern, bis ich schließlich nach unten sah. Es war, als hätte man mir eine Sehne durchschnitten, wie ein körperlicher Schmerz, und ich wünschte mir nichts mehr, als den Blickkontakt wiederaufzunehmen und die Welt um mich herum fahren zu lassen.
Es dauerte Monate, ehe die Leute im Dorf nicht mehr über meinen Auftritt sprachen. War man mir früher ausschließlich mit Respekt und Ehrfurcht begegnet, kam es jetzt öfter vor, dass man mir etwas fester die Hand schüttelte, mir auf die Schultern klopfte, vor allem die Männer, und feixend und mit unverhohlener Ironie zu mir sprach. Und die Worte zu ihrer vollen Größe expandieren, Bibel der Natur und exotische Seeungeheuer verfolgten mich noch Jahre danach. Alle merkten sich den Namen Swammerdam, der später in vielen, sehr unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung fand. Paarten sich Pferde auf einer Wiese, wurde dies als „Swammerdam’sche Betätigung“bezeichnet; wenn sie austreten mussten, sagten betrunkene Männer im Wirtshaus, sie würden eben kurz „ihren Swammerdam lüften“, und die Spezialität der hiesigen Bäckerei, eine längliche, mit Fleisch gefüllte Pastete, wurde plötzlich nur noch „Swammerpie“genannt.
Es belastete mich erstaunlich wenig. In gewisser Weise hatte sich mein Abstieg gelohnt. Jedenfalls dachte ich das, als ich wenige Monate danach Mathilda Tucker heiratete. Als wir zum Altar schritten, hatte ich ihre schmalen, typisch britischen Lippen längst bemerkt. Beim Hochzeitsantrag hatte ich mich erdreistet, sie zu küssen, und zu meiner Enttäuschung bemerkt, dass sich ihr Mund, ganz entgegen meinen nächtlichen Phantasien, keineswegs wie eine große, geheimnisvolle, taubenetzte Blume öffnete oder entfaltete wie ein Swammerdam’sches Seeungeheuer. Er war genauso trocken und steif, wie er aussah. Und die Nase war, streng genommen, eine Ahnung zu groß. Dennoch waren meine Wangen heiß, als wir nun vom Pfarrer getraut werden sollten. Immerhin würde ich heiraten und ernsthaft erwachsen werden, ohne zu ahnen, dass das Erwachsenenleben Dinge voraussetzte, die einen Großteil meiner Träume unmöglich machen und mich zwingen würden, die Welt der Wissenschaft hinter mir zu lassen. Denn Rahm hatte recht. Auch wenn ich mit einfachen, halbherzigen Forschungsaufgaben fortfuhr, hatte ich mich doch gegen meine Leidenschaft für das Fach entschieden.
Aber ich war so sicher gewesen, so vollkommen überzeugt davon, dass Thilda die Richtige für mich war. Ihre Besonnenheit faszinierte mich enorm. Sie dachte immer genau nach, ehe sie eine Frage beantwortete. In gleicher Weise war ich von ihrem stolzen Wesen angetan, ich war voller Bewunderung, wie sie zu ihrer Meinung stand, eine Eigenschaft, die bei den jungen Damen sonst eher selten zu finden war. Erst später, jedoch nicht viel später, nach wenigen Ehemonaten schon, verstand ich, dass sie ihre Antworten nur deshalb so lange abwog, weil sie nicht gerade ein großer Geist war, und ich erkannte, was eigentlich hinter ihrem vermeintlichen Stolz steckte: eine unverbesserliche Sturheit. Denn wie sich herausstellen sollte, gab sie niemals nach. Niemals.
Den dringlichsten Grund, warum ich sie geheiratet hatte, wollte ich nicht einmal mir selbst eingestehen, erst jetzt, auf meinem Krankenlager, konfrontierte ich mich damit, und es war eine Erkenntnis, die mir zeigte, dass ich noch immer so primitiv und lüstern war wie der zehnjährige Junge von einst. Es war die Tatsache, dass sie ein lebendiger, weicher Körper war. Dass sie mein sein würde, mir zugänglich wäre. Dass ich bald die Gelegenheit hätte, mich an diesen Leib zu pressen, mich auf ihn zu legen und dagegenzustoßen, als wäre er frische, feuchte Erde.
Doch auch dies gestaltete sich am Ende nicht so, wie ich es mir ausgemalt hatte, sondern erwies sich als eine eher trockene und anstrengende Angelegenheit mit viel zu vielen Knöpfen und Bändern, mit Fischbeinen vom Korsett, kratzenden Wollstrümpfen und saurem Schweißgeruch. Trotzdem wurde ich mit dem Instinkt einer Tiers, einer Drohne, von ihr angezogen. Wieder und wieder, paarungsbereit, obwohl Nachkommen das Letzte waren, was ich mir wünschte. Und wie die Drohne opferte auch ich mein Leben der Fortpflanzung.
Tao
„Sie tun, was sie können. Sie haben gesagt, sie tun, was sie können.“Kuan streute Teeblätter in eine Kanne, die uns ein Pfleger gegeben hatte. Mit ruhigen Händen schenkte er den Tee in Tassen. Als wären wir zu Hause, als wäre dies Alltag.
Ein Tag. Ein neuer Abend. Hatte ich überhaupt etwas gegessen? Ich wusste es nicht. Sie brachten uns regelmäßig Essen und Trinken. Doch, ein wenig hatte ich zu mir genommen, ein Paar Löffel Reis, etwas Wasser, um das Ziehen in meinem Magen zu dämpfen. Die Reste waren in der Aluminiumschale hart geworden, ein kalter, trockener Klumpen. Aber ich hatte nicht geschlafen. Nicht geduscht. Trug dieselben Kleider wie gestern, bevor alles geschah. Ich hatte mich schick gemacht und meine feinste Garderobe angezogen, eine gelbe Bluse und einen Rock, der mir bis zu den Knien reichte. Jetzt hasste ich den synthetischen Stoff am Körper, die Bluse, die unter den Armen zu eng war und deren Ärmel zu kurz waren, sodass ich sie ständig nach unten zog.
(Fortsetzung folgt)