Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Poesie der Sinuswellen
Großartige Ausstellung: Der Künstler Carsten Nicolai verwandelt das K21 in ein Klang- und Lichtlabor.
DÜSSELDORF Das K21 ist im Grunde kein Museum mehr, und das liegt an Carsten Nicolai. Eine Übersichtsschau mit 40 Installationen, Bildern und Skulpturen des Künstlers ist nun im Keller des Gebäudes zu sehen, und wer die Treppe hinabsteigt, wähnt sich in einem Labor, in einer Forschungs- oder Messstation. Man blickt sogleich auf zwei mächtige, von Spiegeln bedeckte Objekte. Dazwischen spannen sich zwei goldene Fäden. Allerdings sind das gar keine Fäden, sondern Laserstrahlen. Die geometrischen Körper kommunizieren durch sie, die elektromagnetischen Wellen, die wie feine Nabelschnüre anmuten, sind ständig in Bewegung, sie zucken und blitzen, und sie bilden Knötchen, die sich rasch wieder auflösen.
„Parallax Symmetry“heißt die Düsseldorfer Schau, die das Werk des 54 Jahre alten Carsten Nicolai vorstellt. Und wenn man die Qualität einer Ausstellung an der Zahl der Inspirationen, Geistesblitze und erhellenden Momente bemisst, die sie auslöst und daran, wie sehr sie Lust auf die Gegenwart macht, ist das eine super Ausstellung. Nicolai wurde in Chemnitz geboren, als es noch Karl-Marx-Stadt hieß. Wer sich für elektronische Musik interessiert, wird ihn vermutlich unter einem anderen Namen kennen: Als Alva Noto veröffentlicht er minimalistischen Techno. Mit Ryuichi Sakamoto arbeitet er seit mehr als einem Jahrzehnt zusammen, gemeinsam haben sie den Soundtrack zum Leonardo-DiCaprio-Film „The Revenant“komponiert. Und ähnlich wie der Film hört sich die Ausstellung an: Es knistert, klickt, schabt, rauscht, pulsiert, flimmert und ächzt. Kristalliner Groove. Es klingt wie die Arktis um Mitternacht.
Nicolai, der seine schnörkellosen Arbeiten schon im MoMA, auf der Documenta und bei der Biennale in Venedig zeigte, übersetzt Klang in Bilder. Und man meint, der Gegenwart dabei auf die Schliche zu kommen, einer Welt, die durch das Digitale geprägt ist und in virtuelle Räume ausgreift.
Der Keller des K21 ist so weiß, das es weh tut, sogar einen neuen Boden haben sie verlegt. Da hängen Fotografien von Milch, deren Oberfläche Muster wirft, weil Nicolai sie mit Sinuswellen von zehn bis 110 Hertz in Schwingung versetzte. Da winden sich Metallschleifen, und sie organisieren ihre Muster selbst, allein durch die ihnen innewohnende Spannung. Da steht ein Polyeder, der dem rätselhaften Objekt aus Dürers Stich „Melencolia I“nachempfunden ist: Berührt man ihn, gibt das einen brummenden Ton, denn sein Magnetfeld reagiert auf die Spannung des Körpers.
Nicolai hat die Poesie des Physikalischen entdeckt, das Lyrische in Begriffen wie „Quantenverschränkung“. Er schlägt Funken aus dem Gegensatz von organischer Varianz und mathematischer Präzision. Die von Doris Krystof kuratierte Schau ist eine Wahrnehmungsschule: Man wird nervöser, empfänglicher, und man beginnt allmählich, Sound zu schauen und Licht zu hören.
Unter den Bullaugen-Fenstern, die den Blick auf die Oberfläche des Schwanenspiegels vor dem K21 freigeben, hat Nicolai Geigerzähler installiert. Sechs Lautsprecher übertragen die gemessene Strahlung als Geräusch in den Raum. „Partial Noise“heißt das Werk, es knistert ganz schön. Aber das ist vielleicht auch kein Wunder in der Stadt von Kraftwerk. „Radio-Aktivität / Für dich und mich in All entsteht.“