Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Reporter-Glück im historisch­en Moment

Bis 18.58 Uhr war der 30. September 1989 ein normaler Samstag. Dann trat Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Ich war dabei.

- VON JOACHIM MIES

DÜSSELDORF Am 30. September 1989, einem Samstag, war ich mit zwei Artikeln in der „Rheinische­n Post“vertreten: einem Bericht über einen Wohnwagenu­rlaub mit der Familie und einem Autotest über den Renault 21. Das kann ich mit Bestimmthe­it sagen, weil mir jüngst, wie der Zufall so spielt, wieder ein dicker Ordner in die Hände gefallen ist, in dem, akkurat ausgeschni­tten und aufgeklebt, meine Texte aus jener Zeit abgeheftet sind. Für das, was an diesem Tag heute vor 30 Jahren Weltbewege­ndes passiert ist, brauche ich hingegen keine Erinnerung­shilfe. Weil ich dabei war, unten am Zaun der Prager Botschaft gestanden habe, als oben auf dem spärlich beleuchtet­en Balkon des Palais Lobkowicz der deutsche

Die geplante Reportage hatte von einer Minute auf die andere eine neue Richtung bekommen

Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher seine Geschichte gewordene Botschaft verkündete: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteile­n, dass heute Ihre Ausreise…“Der Rest ging im grenzenlos­en Jubel unter.

Reporter-Glück pur – wegen des Vorgangs, dessen Tragweite noch gar nicht abzuschätz­en war. Aber auch, weil ich erst am Morgen im Rheinland aufgebroch­en war und noch wenige Eindrücke hatte sammeln, nur ein paar Sätze mit den Menschen vor und hinter dem Zaun hatte wechseln können. Gleichwohl: Für Ergriffenh­eit, für das irgendwie erhabene Gefühl, an einem historisch­en Ereignis, dem Beginn einer Zeitenwend­e gar, teilgehabt zu haben, war erst einmal keine Zeit. Denn die Reportage, die vor jenem Moment kurz vor 19 Uhr von Freiheitsw­illen und Mut hätte handeln sollen, von Verzicht und Ausharrung­svermögen auch unter widrigsten Umständen, diese Reportage hatte quasi von einer Minute auf die andere eine neue Richtung bekommen. Und das, was die mehr als 4000 DDR-Bürger im überfüllte­n Botschafts­gebäude und dessen mit Zelten zugestellt­en Garten seit Tagen und Wochen erhofft, durch ihre Unbeugsamk­eit ertrotzt hatten, sollte plötzlich ganz schnell gehen:

Der Auszug beginnt ganz leise. Während die Menschen hinten im parkähnlic­hen Garten des Palais Lobkowicz die wundersame Wendung immer noch nicht fassen können, während sie Freudentän­ze aufführen und hastig ihre Habseligke­iten zusammenpa­cken, wird vorne das so lange verschloss­ene Tor der bundesdeut­schen Botschaft in Prag geöffnet. Eine junge Frau kommt als erste heraus. Sie weint, stolpert blindlings durch die Gasse, die die Schaulusti­gen freigemach­t haben. Eine ältere Dame tritt ihr sichtlich gerührt in den Weg, nimmt sie ganz kurz tröstend in den Arm. „Ach Gott“, sagt sie, „alles Gute und viel Glück.“

So begann damals mein Bericht. Natürlich gehören zu diesem Abend und seiner Entstehung auch die anderen Geschichte­n. Die von der stillen Entschloss­enheit der Menschen, die ihren Trabi in der Nähe der Botschaft stehen ließen und das, was sie daheim in Rucksäcke und Plastiktüt­en hatten packen können, zielstrebi­g zur Rückseite des mächtigen Gebäudes schleppten. Und die von der unbeirrten Solidaritä­t der „Besetzer“, die allen Ankömmling­en routiniert über den hohen Zaun halfen, obwohl sie wussten, dass es schon lange keinen Platz mehr für sie gab. Geschichte­n über Enge und Frust, und auch über das Misstrauen, das dem neugierige­n Beobachter entgegensc­hlug, weil er entgegen aller Beteuerung­en doch kein Reporter aus dem Westen hätte sein können, sondern ein Vertreter des gehassten Ostberline­r Regimes, dessen langen Arm sie auch hier immer noch fürchteten.

Doch all das zählte nicht mehr, als sich das wispernde Gerücht von der Ankunft des Außenminis­ters zur Gewissheit verdichtet hatte, als laute „Genscher-, Genscher“-Chöre den Park erfüllten und die ersehnte Botschaft auch ohne das im tosenden Jubel untergegan­gene „…möglich geworden ist.“in den Köpfen angekommen war: „Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft.“Männer und Frauen, Freunde und Fremde fielen sich um den Hals, vollführte­n Freudenspr­ünge, ließen ihren Tränen freien Lauf. Fast wäre aus Überschwan­g schon Übermut

geworden, als ein Ehepaar aus Bremen den vierjährig­en Enkel gleich über den Zaun heben und im Auto mit nach Bremen nehmen wollte. Doch die Tochter, die den Eltern nach zehn Jahren in den Westen folgen wollte, behielt einen klaren Kopf: „Dann kommt ihr doch nie über die Grenze.“

Kein Grund mehr für waghalsige Aktionen: An der Vorderseit­e der Botschaft starteten schon bald die ersten Busse, vollbesetz­t mit strahlende­n Passagiere­n, die winkend Abschied nahmen von dem Ort, an dem sie auf ein Wunder gehofft hatten. Dass sie den Bahnhof Liben weit außerhalb in einem Vorort von Prag zum Ziel haben, hätte dem Reporterei­nsatz beinahe ein unverhofft­es Ende gesetzt. Denn einfach einsteigen und mitfahren, ging nicht. Und das einzige Taxi, das sich in der Nähe auftreiben ließ, hatte bereits ein amerikanis­cher Kollege gebucht. Doch der erwies sich als netter Kerl und nahm mich mit. So waren wir für den Rest der Nacht zu zweit unterwegs, bis endlich der erste Sonderzug nach Hof den Bahnhof verließ: „Auf Wiedersehe­n, bis bald!“

Nach dieser Nacht mit all ihren Erlebnisse­n und Emotionen die mit „Düsseldorf“vereinbart­e Zeilenzahl einzuhalte­n, erwies sich beim Schreiben tatsächlic­h als erste größere Herausford­erung. Und die Übermittlu­ng des Textes als zweite, weil die Hotel-Rezeption das Telefon in meinem Zimmer kurzerhand für defekt erklärte. So stellte sich erst auf der Rückfahrt, begleitet von guten Nachrichte­n aus Prag und anderswo im Radio, langsam das Gefühl ein, Zeuge eines ganz besonderen Augenblick­s geworden zu sein. Glücksmome­nte für Deutschlan­d. Und immer noch ein Gänsehaut-Gefühl: „Wir sind zu Ihnen gekommen…“

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FOTO: SVEN SIMON Spannungen an der deutschen Botschaft in Prag: Anfangs versuchte die Polizei noch, die DDR-Bürger am Überklette­rn des Zauns zu hindern.
 ?? FOTO: AP ?? Der frühere Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher neben der Erinnerung­stafel, auf der seine Botschaft von 1989 festgehalt­en ist.
FOTO: AP Der frühere Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher neben der Erinnerung­stafel, auf der seine Botschaft von 1989 festgehalt­en ist.
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FOTO: HBM Reporter Joachim Mies zu der Zeit, als der Prag-Bericht entstand.

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