Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Für die, die schuldig geworden sind“
Der Generalvikar des Bistums Aachen erklärt einer Mönchengladbacher Gemeinde im Gottesdienst, dass ihr Pfarrer vor 16 Jahren einen Zwölfjährigen sexuell missbraucht haben soll. Das Entsetzen ist groß – nicht nur über die Vorwürfe.
MÖNCHENGLADBACH Das Fürbittengebet sorgt an diesem Sonntag in der Mönchengladbacher Kirchengemeinde St. Mariä Empfängnis für heftige Seufzer. „Für alle Opfer von sexueller Gewalt und Missbrauch. Lass sie Gerechtigkeit erfahren und heile ihre Wunden“, wird verlesen. Und weiter: „Für die, die schuldig geworden sind, weil sie andere missbraucht haben. Gib ihnen die Einsicht und zeige ihnen Wege zur Umkehr und aufrichtiger Buße.“Und die rund 300 Katholiken in der nahezu voll besetzten Kirche antworten: „Wir bitten dich, erhöre uns.“
Es ist ein Gottesdienst an diesem Sonntagmorgen, in dem der Generalvikar des Bistums Aachen, Andreas Frick, den entsetzten Katholiken im Stadtteil Lürrip erklärt, warum ihr Pfarrer Norbert K. nicht mehr da ist. Denn die Staatsanwaltschaft Aachen hat den 55-Jährigen leitenden Pfarrer dreier Mönchengladbacher Gemeinden am vergangenen Montag wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen angeklagt. „Als Generalvikar habe ich Herrn Pfarrer Norbert K. sofort mit Wirkung vom 4. November, 16 Uhr, von seinen priesterlichen Diensten beurlaubt, ihm jegliche Akte der Weihe- und Leitungsgewalt sowie die Ausübung aller mit dem Amt verbundenen Aufgaben auf unbestimmte Zeit untersagt.“Der Brief des Generalvikars wird am Sonntag in allen drei Gemeinden, für die K. zuständig war, verlesen. In Lürrip spricht Frick selbst.
In den Kirchenbänken sitzt auch Dieter Breymann, der Rechtsanwalt des Priesters. „Unglaublich“, entfährt es ihm bei den Worten des Generalvikars. Er kritisiert das Bistum scharf: „Mein Mandant wird vorverurteilt und schutzlos der Öffentlichkeit ausgesetzt, obwohl das Gericht die Anklage noch nicht einmal angenommen hat.“Breymann ist an diesem Sonntagmorgen nicht der einzige in den Kirchenbänken von Lürrip, der das so sieht. Eine Frau raunt, man solle doch eine Petition starten. Der Kirchenvorstand der Gemeinde spricht nachher von einer „harschen Vorgehensweise“, der Brief, den der Generalvikar verlesen habe, sei schon ein „krasse Vorverurteilung“. Andere wiederum sind in Sorge. Sie wenden sich an Alexandra
Schiffers, Referentin für die strategische Aufarbeitung solcher Fälle im Bistum Aachen, die Frick nach Mönchengladbach begleitet hat. Viele fragen sich jetzt: Hat es auch in ihrer Gemeinde ähnliche Fälle mit Pfarrer Norbert K. gegeben?
Glaubt man dem Bistum, dann ist das nicht ganz auszuschließen. In dem verlesenen Brief des Generalvikars ist davon die Rede, dass es Hinweise auf „ein grenzwertiges Nähe-Distanz-Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen“gegeben habe. Wie Frick unserer Redaktion erklärte, soll es um eine Form körperlicher Nähe, aber keine sexuellen Übergriffe, gegangen sein. Schutzbefohlene hätten sich in verdächtigen Chats aus dem Jahr 2016 mit dem Priester bedrängt gefühlt.
Daraufhin hätten die damals Verantwortlichen im Bistum den Pfarrer zum Gespräch einbestellt, ihn ermahnt und Verhaltensauflagen erteilt. Etwa seien jegliche Veranstaltungen in der Privatwohnung des Pfarrers untersagt worden. Vor wenigen Monaten habe es ein „Auffrischungsgespräch“dazu gegeben, allerdings ohne konkreten Anlass. Vorwürfe sexualisierter Gewalt habe es bisher gegen den Pfarrer nicht gegeben.
Für die katholische Kirche ist es ein Dilemma: Wie geht man mit einem Priester unter Missbrauchsverdacht um, wenn man einerseits die Betroffenen und mögliche weitere Opfer, aber auch einen bis zu einer möglichen Verurteilung als unschuldig geltenden Geistlichen nicht vorverurteilen darf, nachdem der Kurie über viele Jahre Vertuschung vorgeworfen wurde? Die katholische Kirche wählt offenkundig den sehr direkten Weg, wie zuletzt auch im Fall des Düsseldorfer Stadtdechanten
Ulrich Hennes, der vom Erzbistum Köln wegen Belästigungsvorwürfen beurlaubt worden war. Die Vorwürfe erwiesen sich später als haltlos, die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Da war der Verdacht aber in der Welt – und Hennes ist heute nicht mehr Stadtdechant. Generalvikar Frick betonte, das Vorgehen im Mönchengladbacher Fall sei angesichts des abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens „völlig alternativlos“.
Nach dem Gottesdienst stehen noch viele geschockte Katholiken vor ihrer Kirche und diskutieren. Währenddessen tauft der Generalvikar in der Kirche ein Kind unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zuvor hatte Frick in den Fürbitten auch noch den Vers verlesen lassen: „Für Pfarrer Norbert K.: Dass er diese Tage und Wochen durch deine Hilfe bestehen kann.“