Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Endlich wieder alles hören Das neue Gerät ist ein Winzling und arbeitet mit modernster Technologie
Hörgeräte waren gestern – heute hat man digitale Kommunikationssysteme im Ohr. Fast unsichtbar übrigens. Das ist wichtig vor allem für Männer, die solche Hilfe scheuen.
DÜSSELDORF Der Klarheit wegen eins vorab: Dies ist ein persönlicher Erfahrungsbericht. Sozusagen die Auswertung eines Anhörungsbogens – jedenfalls im weiteren Sinne. Weil tatsächlich viele Fragen beantwortet wurden, von denen man vorher viele nicht kannte, aber dennoch von den Antworten fasziniert war.
Also: Die Situation kennen vermutlich viele – laut Experten rund 30 Prozent aller Menschen jenseits der 50, über 70 ist es die Hälfte. Man sitzt in großer Runde oder in einem Restaurant mit einer gewissen Geräuschkulisse. Keinesfalls laut, eher mittleres Level, normal also. Aber man versteht nicht mehr jedes Wort des gegenüber Sitzenden. Die normale Reaktion ist, den Kopf zu neigen, unbewusst eine Hand hinters Ohr zu legen und nachzufragen. Mit guter Kinderstube heißt das dann „Wie bitte?“, ist die Erziehung ausbaufähig, kommt nur ein „Hä?“
Nachdem das (die erste Version!) mehrfach passiert ist, kommt von der heimischen Chefin eine unüberhörbare Ansage: „Du brauchst ein Hörgerät!“Das jedoch klingt für den Mann so wie der Zweifel an der Qualität anderer bedeutender Körperfunktionen, wird also als Beginn einer Erosion allgemeiner Leistungsfähigkeit eingeschätzt.
Irgendwann jedoch siegt die Einsicht. Zumindest könnte man es ja mal versuchen. Ein solcher Versuch beginnt mit einem Hörtest beim HNO-Arzt, bei dem ja das „O“(für Ohr) im Fachgebiet auf seine Kompetenz hinweist. Wir gingen in die Düsseldorfer Uni-Klinik zu Thomas Klenzner, dem Leiter des Hörzentrums.
Schon die Fragen vor dem eigentlichen Test machen klar – der Mann weiß, um was es geht, mental wie medizinisch. Er lässt sich die Erfahrungen schildern, die Situationen, in denen man Probleme hat, wiegt nachdenklich den Kopf bei der Schilderung von zwei erlittenen Knall-Traumata aufgrund unmittelbar am Ohr abgefeuerter Gewehrschüsse.
Klenzner sind die derzeit bekannten Ursachen solcher Probleme bekannt, und die können vielfältig sein. Es geht keinesfalls immer um mechanische Hintergründe, also Verschleiß. Auch andere Einflüsse – Krankheiten wie Diabetes, Krebs – können die Funktion unseres komplizierten Hörapparates einschränken. Im vorgerückten Alter kann aber zudem die Vermittlung der eingehende Geräusche ans Hirn eingeschränkt sein. Klenzner nennt das ein Problem der Soundkarte: Alles wird zwar korrekt aufgenommen, aber die Weitergabe und
Verarbeitung ist nicht mehr perfekt. Im Gespräch mit ihm wird dem Laien klar: Das Ganze ist ein komplexes und fein austariertes System, das bei Störungen halt nicht mehr das erwünschte Ergebnis liefert.
Dem Patienten wird das beim Hörtest bestätigt. In einer schalldichten Kabine tauchen über Kopfhörer Geräusche auf. Erst leise, dann lauter – und anhand des Zeitpunkts, ab dem man sie wahrnimmt, wird eine Kurve aufgezeichnet, aus der der Arzt nachher ablesen kann, wo es hapert. Wir liegen absolut im Mainstream – es sind die hohen Frequenzen, die nicht mehr wirklich ankommen. Beispiel: Vogelgezwitscher.
Später werden wir erleben, wie wahr das ist.
Das Fazit des Tests: Keine dramatischen Probleme, links sind immer noch gut 90 Prozent ok, rechts um die 80, aber trotzdem: Könnte besser sein.
Aber ist dafür wirklich schon eine Hilfe nötig? Klenzner sagt ja. Denn noch, erklärt er, sind die Unterschiede nicht gravierend. Falls man dagegen weiter wartet und erst eingreift, wenn es große Probleme gibt und dies in vorgerücktem Alter, sei es weitaus schwieriger, sich an die neue Akustik zu gewöhnen. Also: Hilfe muss her. Es folgt der Einsatz von Sabine Bellut. Sie ist Hörgeräte-Akustiker-Meisterin in Düsseldorf. Sie weiß, warum einigen manchmal das Hören (und eben nicht nur das Sehen) vergeht.
Sie setzt ihrem Kunden ein Paar Testgeräte hinters und ins Ohr. Die werden mit Hilfe des Computers justiert, bis sich ein klares Bild der Hörfähigkeit des Patienten ergibt. Mit angepassten Geräten folgt nun der Test in der Realität, nämlich draußen, auf der Straße. Dort passiert ein Klangerlebnis der besonderen Art – schwer zu beschreiben, irgendwie eine akustische Offenbarung: Plötzlich vertraute Geräusche in einer neuen Qualität, vor allem räumlich. Irritierend zuerst, weil: wie neu. Vorbeigehende Fußgänger, im Gespräch miteinander, ein herankommender Fahrradfahrer, der Autoverkehr – alles deutlicher, intensiver, aus verwirrend vielen Richtungen. Man könnte auch sagen: lauter! Aber: beautiful noise.
Ein regelrechter Glücksmoment kommt ein paar Tage später, mitten im Wald, auf einer Lichtung ohne jedes nicht natürliche Geräusch: Der Wind bewegt die Äste der Bäume plötzlich nicht mehr lautlos, sondern man hört das Rascheln der Blätter, die 40, 50 Meter oder weiter entfernt sind. Vögel zwitschern, hoch oben krächzt ein Rabe – eindeutig so lange nicht mehr wahrgenommen. Das Gefühl? Wunderbar! Im Bekanntenkreis jedoch stößt der Entschluss zum Hörgerät weitgehend auf Skepsis und Unverständnis. Vor allem bei den Männern.
Woran das liegt? Sabine Bellut kennt das Problem. Sie glaubt, es hängt mit der Eitelkeit zusammen. Wenn das schüttere Haupthaar vermeintlich klare Signale sende und damit auch die Chance sinke, eine Hörhilfe zu verdecken, reagierten Männer verschreckt. Experte Klenzner hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Das nicht mehr 100-prozentig funktionierende Gehör werde bei manchen als Beweis von Hinfälligkeit wahrgenommen. Im Extremfall kommt es zu einer Stigmatisierung, bisweilen grenze sich der Betroffene selbst aus, weil er bestimmte, für ihn schwierige Alltagssituationen – Restaurant, Konzert, größere Gruppen – meide. Klenzner. „Trägt einer eine Brille, signalisiert das eine gewisse Bildung, denn er wirkt, als habe er viel gelesen. Bei Schwerhörigkeit heißt es, der ist schwer von Begriff.“Es könne auch sein, dass der englische Begriff für „taub“, das Wort „deaf“, das so ähnlich klinge wie „doof“, sprachgeschichtlich fürs schlechte Hörensagen mitverantwortlich sei. Außerdem entwickelten hochgradig Schwerhörige eine eigene Stimmlage, die für andere merkwürdig klinge. Insgesamt sei das nach wie vor problematisch – für Männer übrigens mehr als für Frauen, obwohl die Verteilung von Hörproblemen nicht signifikant unterschiedlich sei. Männer treffe es ein bisschen häufiger, weil sie aufgrund beruflicher Belastung eher Schäden davon tragen könnten.
Männer reagieren auf die Feststellung „Du brauchst ein Hörgerät!“nicht nur hörbar, sondern auch sichtlich ablehnend. Bellut weiß das und formuliert es noch plastischer: Die Brille hat es geschafft, Teil des Lifestyle zu werden, die Hilfe im Ohr nicht. Noch nicht.
Dabei müsste man es so formulieren: Hörgeräte waren gestern, heute stecken digitale Kommunikationsgeräte im Ohr oder dahinter. Die Zeiten von piependen, gewaltigen Teilen am oder hinter der Muschel in fiesem Beige sind vorbei. Echte Winzlinge sorgen wieder für Klarheit im Gehörgang, zu sehen sind sie kaum. Mal gerade so groß wie ein Kaugummi klemmen die Mini-Klangkörper dort, gehalten von transparenten Kunststoffröhrchen. Richtung Trommelfell führt ein ebenfalls durchsichtiges Röhrchen, an dessen Ende ein angepasstes Plastikteil befestigt ist, über das die Akustik läuft. Und zwar nicht nur die des simplen Hörens im Gespräch. Diese Technik ist längst digital geworden – über Bluetooth kann man das Helferlein ansteuern und so mit dem Handy telefonieren, fernsehen oder Musik hören: Die Ohrstöpsel als Kopfhörer sozusagen – nur eben mit der zusätzlichen Funktion des verbesserten Hörvermögens.
Nachteile? Ja, diese Form von Hightech ist nicht billig, da kommen für ein Paar schnell ein paar tausend Euro zusammen. Kassen und Versicherungen beteiligen sich jedoch in unterschiedlichem Umfang. Und noch ein Problem – die Apparatur ist wasserempfindlich. Sie muss vor dem Duschen oder Schwimmen rausgenommen werden. Und alle vier bis sieben Tage, je nach Intensität der Nutzung, braucht es eine neue Batterie. Diese kleinen Energieträger sind allerdings nicht teuer – eine Packung mit sechs Stück kostet rund drei Euro.
Die Visionen sind atemberaubend, sagt Klenzner. Man stelle sich beispielsweise vor, dass man per Hörgerät mit dem Google-Translator verbunden ist und im Ausland beim Gespräch mit Einheimischen sofort die Übersetzung hört. Spätestens dann ist dieses Lautsprecherchen im Ohr überhaupt nicht mehr peinlich, sondern wirklich cool.
Klingt gut, oder?