Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Eine Frage der Klasse
Eine Reihe von Schriftstellern ist mit Geschichten über ihre soziale Herkunft erfolgreich. Sie beschreiben dabei ihre Milieus und soziale Ungleichheit. Ein alter Kampfbegriff kehrt zurück.
Die Welt ist in Bewegung. Vielleicht wird darum gerade so viel darüber nachgedacht, was Halt gibt: Über Identität und Herkunft, darüber, was die Persönlichkeit eines Menschen formt, was ihn bindet, ihm Zugehörigkeit verschafft, was ihn womöglich aber auch einengt und an ein Milieu kettet.
Französische Autoren wie Didier Eribon und Annie Ernaux haben mit soziologisch geschulten Sinnen die eigene Herkunft erforscht, haben über ihre Eltern, ihre Erziehung, den schmerzhaften Prozess des Milieuwechsels geschrieben und dafür gerade in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekommen. Beide sind in „kleinen“Verhältnissen aufgewachsen und haben sich durch ihre Bildungsgänge aus dieser Herkunft gelöst. Das hat ihren Blick geschärft für das, was der Soziologe Pierre Bourdieu die „feinen Unterschiede“nennt. In Deutschland hat die Schriftstellerin Daniela Dröscher eine vergleichbare Selbsterkundung unternommen. Ebenso Sasa Stanisic, der in seinem autobiografischen Buch „Herkunft“dazu vom kulturellen Wechsel eines Migranten erzählt. Dafür bekam er in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis.
Autobiografische Bücher laden zum Abgleich mit dem eigenen Leben ein, sind darum beliebte Lektüre. Geschichten über die soziale Herkunft greifen über individuelle Erlebnisse hinaus, beschreiben Milieus und soziale Ungleichheit. Dabei kehrt ein alter Kampfbegriff zurück, der lange verdrängt war: der Begriff der Klasse.
Wenn Eribon in „Rückkehr nach Reims“danach forscht, warum im Arbeitermilieu ein Junge wegen seiner Homosexualität ausgegrenzt wird, wenn der aus Bosnien-Herzegowina stammende Stanisic in „Herkunft“beschreibt, wie er versuchte, in Deutschland den stereotypen Zuschreibungen als Flüchtling zu entkommen, dann geht es um Unterdrückung und Scham, um das Recht auf Entfaltung und den Spielraum, sich Teilhabe und Anerkennung zu verschaffen. Es geht im Kern also um Macht- und Besitzverhältnisse, und das wird wieder durch den Klassebegriff markiert. Daniela Dröscher spielt damit sogar im Titel ihrer autobiografischen Reflexionen, „Zeige deine Klasse“heißt ihr Buch.
„Klassenzugehörigkeit ist etwas, das Menschen oft erst nach Jahrzehnten wahrnehmen“, sagt Dröscher. Sie wuchs in den 80er
Jahren in einer Mittelklasse-Familie in einem Dorf in Rheinland-Pfalz auf. Kein Prekariat, der Vater arbeitete als Maschinentechniker, der Familie ging es besser als anderen im Dorf. Doch die Eltern sprachen Dialekt, besuchten keine Orte der Hochkultur wie Theater oder Museen. Als Dröscher den Sprung ans Gymnasium schaffte, zum Studium nach Trier, später nach England ging, bekam sie die Unterschiede zu spüren. „Ich hatte das Gefühl, ich kenn’ mich nicht aus, ich spreche eine andere Sprache, ich muss einen fremden Habitus
„Klassenzugehörigkeit nehmen Menschen oft erst nach Jahrzehnten wahr“
Daniela Dröscher Schriftstellerin
erlernen“, sagt Dröscher. Dabei habe sie keine offensichtliche Diskriminierung erfahren. „Niemand war direkt verächtlich zu mir“, sagt sie. Doch da sei ständig das Gefühl von Unsicherheit und Nichtzugehörigkeit gewesen, das sie im Laufe ihres akademischen und dann auch künstlerischen Werdegangs überwinden musste.
Dass ihr die Anpassung gelang, sieht Dröscher auch kritisch. „Wenn man den Habitus der anderen Klasse entziffert und imitiert, kauft man auch deren Werte ein – und entsolidarisiert sich mit dem Unten, mit dem man biografisch verbunden ist, und sei es wie in meinem Fall durch die Generation der Großeltern“, sagt die Schriftstellerin. Sie nennt das „Klassenverrat“– eine mangelnde Solidarität der Mitte mit Menschen aus den unteren sozialen Schichten. Oft sei das auch ein Zeichen von Abstiegsangst. Es sei darum an der Zeit, über die Mechanismen nachzudenken, die zu Ungleichheit führten. „Wir brauchen wieder ein Bewusstsein dafür, dass nicht manche Menschen arm sind, andere reich, sondern dass manche arm sind, weil andere reich sind“, so Dröscher.
Klasse ist ursprünglich ein politischer Begriff aus den sozialen Schlachten des 19. und 20. Jahrhunderts. Erst Denker wie Karl Marx und Max Weber haben den Kampfbegriff in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. „Wenn Schriftsteller heute den Begriff wieder verwenden, betonen sie damit, dass die soziale Lage eines Menschen noch immer stark davon abhängt, welche Position im Wirtschaftssystem er einnimmt“, sagt der Soziologe Christoph Weischer von der Universität Münster. Die Autoren wiesen außerdem darauf hin, dass Ungleichheit von Generation zu Generation weitergegeben werde.
Die Literatur übernimmt die Aufgabe, von den Folgen zu erzählen. Autoren berichten, wie sich Ausgrenzung anfühlt. Sie reflektieren, wie sich das Milieu im Inneren von Menschen ablagert und ihr Selbstvertrauen aushöhlt.
Die klassenbewussten Autobiografien der jüngeren Zeit machen auch deutlich, dass Ungleichheit heute nicht mehr nur von der klassischen sozialen Frage abhängt, ob Menschen Produktionsmittel besitzen oder ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Heute sorgt zum Beispiel auch die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit für Ausgrenzung. Und Migration schafft neue Formen von Unterdrückung und Ausbeutung. „Man kann die komplexen Verhältnisse nicht in einem einzigen Modell einfangen“, sagt Weischer. Darum hält er den klassischen Begriff der Klasse nur noch für begrenzt brauchbar und arbeitet selbst an neuen Konzepten, um auch Entwicklungen wie Kolonialismus und Migration in die Betrachtung einzubeziehen.
Auch die Schriftstellerin Dröscher hofft nach der Rückgewinnung des Klassenbegriffs auf dessen Erweiterung: „Wir brauchen einen klassenübergreifenden Klassebegriff, der keine Neiddebatten schürt, sondern das Bewusstsein für Ausbeutung und Lohnabhängigkeit bei allen Menschen schärft.“