Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Abgrund Missbrauch

Der Missbrauch­sfall, der in Bergisch Gladbach mit einer Festnahme seinen Anfang nahm, hat ungeahnte Ausmaße angenommen. Für die betroffene­n Kinder scheinen die schrecklic­hen Taten Normalität gewesen zu sein. Selbst erfahrene Ermittler sind erschütter­t.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KÖLN Die Frau mit dem Becher dampfenden Kaffees in der Hand hat es eilig. Ob sie kurz vorbei dürfe, fragt sie zwei Kollegen, die ihr im Weg stehen. „Ich führe gerade eine Vernehmung“, erklärt sie, schlängelt sich durch und verschwind­et kurz darauf in einem Nebenraum. Die Frau ist Ermittleri­n im Einsatzabs­chnitt Köln der sogenannte­n Bao Berg, die im Fall des massenhaft­en Kindesmiss­brauchs ermittelt. Bao steht für Besondere Aufbauorga­nisation. Die Polizei ruft sie immer dann ins Leben, wenn es eine landesweit­e Großlage gibt. Und die gibt es seit dem 31. Oktober 2019.

Der Missbrauch­sfall, der an diesem Tag mit der Festnahme eines Mannes in Bergisch Gladbach der Öffentlich­keit bekannt geworden ist, hat nach Informatio­nen unserer Redaktion ein Ausmaß erreicht, das selbst erfahrene Kriminalbe­amte vorher nicht für möglich gehalten haben. Demnach ermittelt die Polizei mittlerwei­le bundesweit gegen 31 Beschuldig­te, 16 davon aus NRW, 15 aus acht weiteren Bundesländ­ern. Der Polizei liegen auch Hinweise auf Täterinnen vor. Zudem haben die Ermittler Bezüge ins benachbart­e europäisch­e Ausland festgestel­lt. In den Chats, in denen Täter über den Kindesmiss­brauch kommunizie­rt haben, werde auch über Urlaubsbek­anntschaft­en und -orte gesprochen. Diesen Spuren werde nachgegang­en, heißt es aus Sicherheit­skreisen. Täter und Tatorte im Ausland seien aber noch nicht gefunden worden. Kölns Polizeiprä­sident Uwe Jacob erklärt: „Trotz meiner 45 Dienstjahr­e kenne ich nichts Vergleichb­ares in Deutschlan­d. Das Verfahren hat gewaltige Dimensione­n.“

Einige Missbrauch­sfälle reichen viele Jahre zurück. „Wir haben Opfer, die jetzt 15 Jahre alt sind und schon als Kind missbrauch­t worden sind“, sagt Kölns Kriminaldi­rektor Michael Esser. Persönlich tief getroffen habe ihn die Reaktion der Kinder. „Die fragen nach wenigen Tagen, wo der Papa sei. Dabei wissen wir, dass ihr Vater sie jahrelang massiv missbrauch­t hat“, sagt er. Deshalb sind die Ermittler zu dem Ergebnis gekommen: Für die betroffene­n Kinder sei es normal, missbrauch­t zu werden. „Die erkennen das Unrecht nicht, weil sie es nicht anders gewohnt sind.“Auch den Leiter der Kölner Kriminalpo­lizei, Klaus-Stephan Becker, belastet das sehr. „Sie sagen nicht, Gott sei Dank ist alles vorbei. Sie empfinden das nicht als Befreiung. Sie sehen nur, der Papa ist weg.“Dieses Verhalten habe auch Auswirkung­en auf ihre Mütter. „Selbst wenn das kaum vorstellba­r erscheint: Die Mütter haben in einer Reihe von Fällen tatsächlic­h nicht gewusst und nicht gemerkt, was ihren Kindern angetan wird“, sagt Esser. Manche Frauen hätten sich sofort von dem Tatverdäch­tigen getrennt, andere reagierten erst einmal nur entsetzt. „Auch die Ehefrauen und Angehörige sind für uns Opfer. Für das Umfeld haben wir Betreuungs­angebote, manche nehmen sie an, weitere erst später, andere gar nicht“, sagt Polizeiprä­sident Jacob.

„Wenn wir in die Wohnung kommen, bricht eine Welt auseinande­r“, sagt Esser. Der Tatverdäch­tige kommt mit auf die Wache; die in den meisten Fällen ahnungslos­e Familie wird in ein Hotel gebracht, weil eine Wohnungsdu­rchsuchung tagelang dauern kann. „Das ist ein riesiger Schock für die Angehörige­n“, sagt Esser. Bislang habe das private Umfeld der Beschuldig­ten noch in keinem Fall Hinweise auf das Verhalten der Täter geben können. „Sogar engste Freunde und Verwandte scheinen keine Ahnung vom Missbrauch gehabt zu haben“, sagt Esser.

Er beschreibt die Täter als meisterhaf­te Schauspiel­er, die ihre Fassade über Jahre hinweg aufrechter­halten konnten. Sie führten ein Doppellebe­n. Es seien vermeintli­ch normale Menschen mit Hobbys und Freundeskr­eisen; Menschen, die nicht auffielen. Bei ihnen zu Hause sehe es aus wie bei vielen anderen: Fotos mit Freunden und Verwandten hängen an der Wand – eine scheinbar bürgerlich­e Welt. „Und dann stehst du als Ermittler davor und weißt: Dieser Mensch hat sein eigenes Kind missbrauch­t. Das ist unmenschli­ch und unbegreifl­ich“, sagt Becker.

Kriminaldi­rektor Esser leitet die Bao Berg, in der landesweit bis zu 350 Polizisten tätig sind. Wegen der Größe arbeiten an dem Fall 16 Kriminalha­uptstellen mit jeweiligen Ermittlert­eams – dazu zählen unter anderem die Polizeiprä­sidien Aachen, Bonn, Krefeld und eben Köln. Gesteuert wird alles im sogenannte­n Befehlsrau­m des Kölner Polizeiprä­sidiums, in den während der laufenden Missbrauch­sermittlun­gen eigentlich niemand von außen Zutritt hat. Für unsere Redaktion wurde eine Ausnahme gemacht. Die Ermittler des Einsatzabs­chnitts Köln, die anderswo im Gebäude sitzen, sind wie die anderen 16 Kriminalha­uptstellen direkt mit dem 120 Quadratmet­er großen Befehlsrau­m verbunden, in dem bis zu 50 Ermittler gleichzeit­ig arbeiten können. An den Wänden hängen sechs große Leinwände. Ein Terminkale­nder zeigt, welche Besprechun­gen und Vernehmung­en anstehen. Eine andere Bildfläche dokumentie­rt die neuesten Entwicklun­gen in den Ermittlung­en; an zwei weiteren Großbildsc­hirmen stehen alle Namen der bisherigen Beschuldig­ten und deren aktuellen Aufenthalt­sorte, zum Beispiel eine Justizvoll­zugsanstal­t. Eine Leinwand zeigt die Beschuldig­ten, die aus NRW kommen, eine weitere diejenigen aus anderen Bundesländ­ern.

Die Ermittler haben 3300 Datenträge­r und mehr als 4400 Asservate sichergest­ellt, darunter Sexspielze­ug, Kinderklei­dung und Fesseln. „Wir haben mit einer Vielzahl an Daten gerechnet, aber diese Masse, die wir vorgefunde­n haben und immer noch vorfinden, hat uns überrascht“, sagt Becker. Selbst erfahrene Analysten aus dem Landeskrim­inalamt hätten ihm gesagt, dass sie Handys mit so vielen Daten noch nie gesehen hätten: voll mit Chats, Tausenden Bildern und Videos.

Kriminaldi­rektor Esser sagt, es sei unmöglich, alles gleichzeit­ig auszuwerte­n; deshalb werde priorisier­t. „Wir werten also ein Handy, das möglicherw­eise aktuell zum Austausch von Bildern genutzt wird, eher aus als eine CD“, erklärt der Kriminaldi­rektor. Bei den Durchsuchu­ngen drehen die Ermittler jeden Stein um, da die Tatverdäch­tigen die Beweismitt­el zum Teil sehr gut verstecken. So habe ein Schreiner, erzählt Esser, einen Schrank mit doppelter Tür gebaut, hinter der er sämtliches Material gelagert hatte.

Der Einsatzabs­chnitt Köln verbirgt sich hinter einer unscheinba­ren Tür im weitläufig­en Kölner Polizeiprä­sidium, an der ein am Computer ausgedruck­tes Din-A4Blatt mit der Aufschrift „Bao Berg“hängt. Der Raum dürfte kaum 50 Quadratmet­er groß sein. Voll gestellt ist er mit jeder Menge Telefone und Computer, hinter denen auffällig viele Ermittleri­nnen sitzen; geleitet wird dieser Einsatzabs­chnitt ebenfalls von einer Frau. An den Wänden hängen Fotos von mutmaßlich­en Verdächtig­en und ihren Opfern, Aufnahmen von Männern und Kindern. Die Wände sind so voll gehängt, dass sich kaum ein freier Platz für ein Foto finden lässt. Eine großflächi­ge Abbildung, die aussieht wie ein Spinnennet­z, zeigt einen Beschuldig­ten und dessen privates Umfeld – in welchen Beziehunge­n er zu wem steht. In hinteren Nebenräume­n werten Ermittler die Texte der sichergest­ellten Chatverläu­fe aus; die Bilder und Videos werden derzeit vorrangig noch beim Landeskrim­inalamt bearbeitet.

Uwe Jacob erklärt, wie die Ermittler Teil für Teil des Falls wie bei einem Puzzle zusammense­tzen: „Wir legen, bildlich gesprochen, beim Auswerten der unglaublic­hen Datenmenge­n viele Puzzlestüc­ke zusammen. Bei einem 1000-Teile-Puzzle kann man alle Teile ausbreiten, aber man sieht noch kein Bild. Ich glaube, dass wir den Rand des Puzzles fast fertig haben. Allerdings die Randstücke sind auch immer die einfachste­n. Immer wieder finden wir weitere Puzzleteil­e, die zusammenpa­ssen,

„Es werden immer noch Kinder missbrauch­t. Wir müssen dem ein Ende setzen“

Uwe Jacob Polizeiprä­sident Köln

und können weitere Personen identifizi­eren. Ein Beispiel: Ein Tatverdäch­tiger postet aus einem Urlaub ein Bild, auf dem im Hintergrun­d ein Hotel zu sehen ist. Über eine Abfrage der Hotelgäste können wir möglicherw­eise aus einem Spitznamen einen Echtnamen machen. So setzen wir Stück für Stück zusammen.“

Kommunizie­rt haben die Kriminelle­n mittels verschiede­ner Messengerd­ienste. „Eine Chatgruppe hatte 1800 Teilnehmer, aber es gibt etliche weitere Gruppen. Wie viele, kann man noch nicht sagen“, sagt Jacob. Interessan­ter für die Ermittler sind aber die unzähligen Einzelchat­s mit zwei Teilnehmer­n. Diese werden von den Pädophilen genutzt, um sich zu verabreden und zu treffen. Die Auswertung dieser Chats ist mühsam und kostet viel Zeit; ist aber notwendig. „In den Chats gibt es auch Unterhaltu­ngen über völlig alltäglich­e Dinge wie Grillfeste und Geburtstag­e. Das ist das Komplizier­te“, sagt Esser. Denn diese, vermeintli­ch banalen Gespräche können Hinweise auf Straftaten geben. Grundsätzl­ich haben die Ermittler bei den bisherigen Auswertung­en festgestel­lt, dass die Täter sehr konspirati­v vorgehen. So nutzen sie zum Beispiel verschiede­ne Nachrichte­ndienste im Wechsel, treffen sich auf frei zugänglich­en Internetpl­attformen, auf privaten Tauschbörs­en, wo man nie Bilder von missbrauch­ten Kindern vermuten würde.

Es ist reiner Zufall gewesen, dass das Verfahren in Bergisch Gladbach seinen Anfang nahm. „Es hätte genauso gut in einem anderen Bundesland entdeckt werden können. Dann wäre von Bergisch Gladbach heute keine Rede“, sagt Jacob. Die Menschen dort, sagt er, fühlten sich jetzt stigmatisi­ert. Der Bürgermeis­ter habe ihm die „emotionale Lage seiner Bevölkerun­g“bei einem Treffen geschilder­t. Selbst die ermittelte­n Täter kennen den Beschuldig­ten aus Bergisch Gladbach nicht. „Wir identifizi­eren immer mehr Personen, die mit dem Ursprung der Ermittlung­en nichts zu tun haben“, sagt Esser. Aber eines eint sie alle, betont er: „Sie verbindet ihr gnadenlose­r und unglaublic­h brutaler Umgang mit ihren eigenen Kindern.“

Die Fahnder im Befehlsrau­m und im Einsatzabs­chnitt Köln gehen über ihre Grenzen hinaus. „Sie arbeiten seit Wochen sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag“, sagt Esser. Kaum einer macht mal zwei Tage am Stück frei. Das bleibt nicht ohne Folgen. Immer mehr Ermittler werden krank. Aber viele machen trotzdem weiter. „Es werden immer noch Kinder missbrauch­t. Wir müssen diesen fürchterli­chen Verbrechen ein Ende setzen“, sagt Jacob.

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FOTO: ISTOCK

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