Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ein ordentlicher Linksschwenk
Der SPD-Parteitag stattet die neuen Vorsitzenden mit respektablen Ergebnissen aus und verhindert eine offene Redeschlacht der Symbolfiguren des Groko-Streits. Einig verlief der erste Tag dennoch nur vordergründig.
BERLIN Es ist fast Mittag, als die Nachricht einer Einigung die Runde macht. Kevin Kühnert steht auf dem Flur vor dem Messesaal in Berlin. Innerhalb weniger Minuten umringen ihn zig Journalisten. Erst zögerlich, dann in aller Klarheit macht der Juso-Chef deutlich, dass es kein Duell zwischen ihm und Arbeitsminister Hubertus Heil um einen Vizeposten geben werde. Am Vorabend, in der Nacht und selbst am Freitagmorgen kämpften ranghohe Sozialdemokraten der Landesverbände genau dafür: dass es nicht, wie seit Monaten eigentlich geplant, nur drei stellvertretende Parteivorsitzende geben dürfe – sondern vier. Mindestens. Am Ende wurden es sogar fünf. Um des lieben Friedens willen.
Denn dass es diesen machtpolitischen Kunstgriff brauchte, hat einen einfachen Grund: die Angst der mittlerweile in zwei Gruppen gespaltenen Partei vor dem eigenen Bedeutungsverlust. Da sind die Kritiker der großen Koalition, allen voran die neue Parteichefin Saskia Esken und Kühnert. Und da sind die anderen, die der Koalition eine Chance geben wollen, sie am liebsten erhalten wollen. Wie beispielsweise Hubertus
Heil. Kühnert und Heil, diese beiden Symbolfiguren im Streit um das Bündnis mit der Union, sollten nicht gegeneinander in den Ring treten. Diesen Stellvertreterkampf um die große Koalition wollten gewiefte Parteistrategen um jeden Preis verhindern. Sie hatten Erfolg.
Saskia Esken, die Abgeordnete aus Baden-Württemberg, die sich in der Fraktion jahrelang um Digitalpolitik gekümmert hat, ohne dabei besonders aufzufallen, steht jetzt an der Spitze der ältesten Partei Deutschlands. An ihrer Seite: Norbert Walter-Borjans, der frühere NRW-Finanzminister, der seine politische Karriere eigentlich schon beendet hatte. Esken und Walter-Borjans geben sich alle Mühe, neue Töne anzuschlagen. „Ich war und ich bin skeptisch, was die Zukunft dieser großen Koalition angeht“, sagt Esken. Sie fügt hinzu: „Viel zu lange war die SPD in den letzten Jahren in ihrer eigenen Denke mehr große Koalition als eigenständige Kraft.“Die SPD gebe der Groko eine „realistische Chance auf eine Fortsetzung“– „nicht mehr, aber auch nicht weniger“.
Walter-Borjans beschwichtigt, gibt sich zugleich selbstbewusst. „Wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts, und in meinem Fall aus langer gemeinsamer Geschichte
auch Johannes Raus, ein Linksschwenk der Partei ist, dann bitte sehr, dann machen wir gemeinsam einen ordentlichen Linksschwenk“, sagt Walter-Borjans. Er bekommt deutlich mehr Applaus als Esken, hält die rhetorisch bessere Rede. Bei der Wahl statten die Delegierten sie aber beide mit guten Ergebnissen aus. Esken bekommt 75,9 Prozent, Walter-Borjans landet sogar bei 89,2 Prozent. Das ist deutlich besser, als es zuvor selbst ihre Unterstützer zu hoffen gewagt hatten.
Mit diesem Rückenwind gehen die beiden Neuen dann in die eigentliche Prüfung: die Debatte um den Leitantrag. Ein Antrag, der Gespräche mit der Union verlangt, dafür auch inhaltliche Nachschärfungen für mehr Klimaschutz, für ein gigantisches Investitionspaket und für einen Mindestlohn mit der Untergrenze zwölf Euro fordert. Der aber keine roten Linien gegenüber der Union zieht. Nach drei Stunden teils kontroverser Aussprache steht das Ergebnis fest: Fast alle Delegierten stimmen für den Leitantrag, es gibt keine Revolution gegen die gerade erst gewählten Vorsitzenden. Das ist auch prominenten Sozialdemokraten wie Scholz, Heil und Familienministerin Franziska Giffey zu verdanken, die mit Inbrunst für den Leitantrag des Vorstands geworben haben.
Auch Kühnert stimmt teilweise ein. Doch am Abend rockt er den Saal, hält die beste Rede des Tages für seine Bewerbung als stellvertretender Parteivorsitzender – und beugt damit Kritik auch aus den eigenen Reihen vor. Kühnert kocht, greift die Wirtschaftsverbände dafür an, dass sie etwa nur in lukrativen Gegenden den Mobilfunk ausbauen wollen und dem Staat den teuren Ausbesserungsbetrieb überlassen wollen. „So haben wir nicht gewettet“, ruft Kühnert. Er attackiert CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer für ihren Vorschlag eines verpflichtenden sozialen Jahres. Dies sei ein „zutiefst die Generationen gegeneinander aufwiegelnder Vorschlag“, wettert er. Wenn die CDU-Chefin etwas tun wolle für die Generationengerechtigkeit, „dann soll sie dafür sorgen, dass wir über 2025 hinaus eine Rente haben, die noch funktioniert“, fordert Kühnert unter dem Jubel der Delegierten. Sie solle weniger über eine Dienstpflicht als über eine Ausbildungsplatzgarantie reden.
Und dann nimmt er eine rote Socke zur Hand, um die 600 Delegierten endgültig in Begeisterung zu versetzen. Er ruft: „Schluss damit!“Schluss mit der Selbstverzwergung, soll das heißen, Schluss mit roten Socken, jenem Symbol für die Spaltung der Linken. Man suche sich seine Partner selbst, macht Kühnert klar, auch die Linkspartei komme infrage. Kühnert steht für den Linksschwenk. Und die Delegierten folgen ihm an diesem Abend gern.