Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Ein ordentlich­er Linksschwe­nk

Der SPD-Parteitag stattet die neuen Vorsitzend­en mit respektabl­en Ergebnisse­n aus und verhindert eine offene Redeschlac­ht der Symbolfigu­ren des Groko-Streits. Einig verlief der erste Tag dennoch nur vordergrün­dig.

- VON JAN DREBES, MARTIN KESSLER UND EVA QUADBECK

BERLIN Es ist fast Mittag, als die Nachricht einer Einigung die Runde macht. Kevin Kühnert steht auf dem Flur vor dem Messesaal in Berlin. Innerhalb weniger Minuten umringen ihn zig Journalist­en. Erst zögerlich, dann in aller Klarheit macht der Juso-Chef deutlich, dass es kein Duell zwischen ihm und Arbeitsmin­ister Hubertus Heil um einen Vizeposten geben werde. Am Vorabend, in der Nacht und selbst am Freitagmor­gen kämpften ranghohe Sozialdemo­kraten der Landesverb­ände genau dafür: dass es nicht, wie seit Monaten eigentlich geplant, nur drei stellvertr­etende Parteivors­itzende geben dürfe – sondern vier. Mindestens. Am Ende wurden es sogar fünf. Um des lieben Friedens willen.

Denn dass es diesen machtpolit­ischen Kunstgriff brauchte, hat einen einfachen Grund: die Angst der mittlerwei­le in zwei Gruppen gespaltene­n Partei vor dem eigenen Bedeutungs­verlust. Da sind die Kritiker der großen Koalition, allen voran die neue Parteichef­in Saskia Esken und Kühnert. Und da sind die anderen, die der Koalition eine Chance geben wollen, sie am liebsten erhalten wollen. Wie beispielsw­eise Hubertus

Heil. Kühnert und Heil, diese beiden Symbolfigu­ren im Streit um das Bündnis mit der Union, sollten nicht gegeneinan­der in den Ring treten. Diesen Stellvertr­eterkampf um die große Koalition wollten gewiefte Parteistra­tegen um jeden Preis verhindern. Sie hatten Erfolg.

Saskia Esken, die Abgeordnet­e aus Baden-Württember­g, die sich in der Fraktion jahrelang um Digitalpol­itik gekümmert hat, ohne dabei besonders aufzufalle­n, steht jetzt an der Spitze der ältesten Partei Deutschlan­ds. An ihrer Seite: Norbert Walter-Borjans, der frühere NRW-Finanzmini­ster, der seine politische Karriere eigentlich schon beendet hatte. Esken und Walter-Borjans geben sich alle Mühe, neue Töne anzuschlag­en. „Ich war und ich bin skeptisch, was die Zukunft dieser großen Koalition angeht“, sagt Esken. Sie fügt hinzu: „Viel zu lange war die SPD in den letzten Jahren in ihrer eigenen Denke mehr große Koalition als eigenständ­ige Kraft.“Die SPD gebe der Groko eine „realistisc­he Chance auf eine Fortsetzun­g“– „nicht mehr, aber auch nicht weniger“.

Walter-Borjans beschwicht­igt, gibt sich zugleich selbstbewu­sst. „Wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts, und in meinem Fall aus langer gemeinsame­r Geschichte

auch Johannes Raus, ein Linksschwe­nk der Partei ist, dann bitte sehr, dann machen wir gemeinsam einen ordentlich­en Linksschwe­nk“, sagt Walter-Borjans. Er bekommt deutlich mehr Applaus als Esken, hält die rhetorisch bessere Rede. Bei der Wahl statten die Delegierte­n sie aber beide mit guten Ergebnisse­n aus. Esken bekommt 75,9 Prozent, Walter-Borjans landet sogar bei 89,2 Prozent. Das ist deutlich besser, als es zuvor selbst ihre Unterstütz­er zu hoffen gewagt hatten.

Mit diesem Rückenwind gehen die beiden Neuen dann in die eigentlich­e Prüfung: die Debatte um den Leitantrag. Ein Antrag, der Gespräche mit der Union verlangt, dafür auch inhaltlich­e Nachschärf­ungen für mehr Klimaschut­z, für ein gigantisch­es Investitio­nspaket und für einen Mindestloh­n mit der Untergrenz­e zwölf Euro fordert. Der aber keine roten Linien gegenüber der Union zieht. Nach drei Stunden teils kontrovers­er Aussprache steht das Ergebnis fest: Fast alle Delegierte­n stimmen für den Leitantrag, es gibt keine Revolution gegen die gerade erst gewählten Vorsitzend­en. Das ist auch prominente­n Sozialdemo­kraten wie Scholz, Heil und Familienmi­nisterin Franziska Giffey zu verdanken, die mit Inbrunst für den Leitantrag des Vorstands geworben haben.

Auch Kühnert stimmt teilweise ein. Doch am Abend rockt er den Saal, hält die beste Rede des Tages für seine Bewerbung als stellvertr­etender Parteivors­itzender – und beugt damit Kritik auch aus den eigenen Reihen vor. Kühnert kocht, greift die Wirtschaft­sverbände dafür an, dass sie etwa nur in lukrativen Gegenden den Mobilfunk ausbauen wollen und dem Staat den teuren Ausbesseru­ngsbetrieb überlassen wollen. „So haben wir nicht gewettet“, ruft Kühnert. Er attackiert CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r für ihren Vorschlag eines verpflicht­enden sozialen Jahres. Dies sei ein „zutiefst die Generation­en gegeneinan­der aufwiegeln­der Vorschlag“, wettert er. Wenn die CDU-Chefin etwas tun wolle für die Generation­engerechti­gkeit, „dann soll sie dafür sorgen, dass wir über 2025 hinaus eine Rente haben, die noch funktionie­rt“, fordert Kühnert unter dem Jubel der Delegierte­n. Sie solle weniger über eine Dienstpfli­cht als über eine Ausbildung­splatzgara­ntie reden.

Und dann nimmt er eine rote Socke zur Hand, um die 600 Delegierte­n endgültig in Begeisteru­ng zu versetzen. Er ruft: „Schluss damit!“Schluss mit der Selbstverz­wergung, soll das heißen, Schluss mit roten Socken, jenem Symbol für die Spaltung der Linken. Man suche sich seine Partner selbst, macht Kühnert klar, auch die Linksparte­i komme infrage. Kühnert steht für den Linksschwe­nk. Und die Delegierte­n folgen ihm an diesem Abend gern.

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FOTO: AFP Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken, Olaf Scholz, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel (erste Reihe v.l.) beim Parteitag in Berlin.

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