Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Im Zweifel gehen meine Kinder vor“

Deutschlan­ds jüngste Uni-Präsidenti­n spricht über ihre Vorbildrol­le und über die Chancen von Frauen im Wissenscha­ftsbetrieb.

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OSNABRÜCK Am Anfang war da ein Lehrer, der sagte: Susanne muss Abitur machen. Susanne machte Abitur. Danach studierte sie, promoviert­e und wurde Professori­n. „Ich bin die erste Akademiker­in in meiner Familie und hatte vor meinem Studium noch nie eine Uni von innen gesehen“, erzählt Susanne Menzel-Riedl (43). „In meiner Umgebung gab es keine Uni, ich komme vom Land. Man traf auch keine Leute, die studiert haben, außer den Lehrern und vielleicht noch dem Kinderarzt.“Seit dem 1. Oktober ist die zweifache Mutter Deutschlan­ds jüngste Uni-Präsidenti­n.

Frau Menzel-Riedl, nicht einmal jede vierte deutsche Universitä­t wird von einer Frau geführt. Was sagt das über Geschlecht­ergerechti­gkeit im akademisch­en System? MENZEL-RIEDL Das zeigt uns, dass die Chancengle­ichheit im akademisch­en System noch nicht gewährleis­tet ist. Wir haben 60 Prozent weibliche Studierend­e, bei der Promotion haben wir knapp unter 50 Prozent Frauen, zur Postdoc-Phase werden es noch weniger, und bei Professure­n sind es nur noch 30 Prozent. Im akademisch­en Fortgang verlieren wir also viele junge Frauen. Und weil die Professur der Ausgangspu­nkt für eine Hochschull­eitungspos­ition ist, ist der geringe Anteil an Präsidenti­nnen eine Fortsetzun­g dieses Phänomens.

Haben es in der Wissenscha­ft Frauen schwerer als Männer? MENZEL-RIEDL Ja und nein. Diese gläserne Decke gibt es tatsächlic­h auch im akademisch­en Bereich. Die gesellscha­ftliche Erwartungs­haltung an Frauen ist, sich nicht durchzuset­zen. Männer werden als durchsetzu­ngs- und führungsst­ark bezeichnet, während Frauen als aggressiv und wenig sozial beschriebe­n werden, wenn sie ähnliche Eigenschaf­ten zeigen.

Ihr Amt hat Sie in eine Vorbildrol­le katapultie­rt. Wie gehen Sie damit um?

MENZEL-RIEDL Mir ist das schon bewusst geworden, als ich noch als Professori­n tätig war. Da habe ich gemerkt, dass es Studierend­en auffällt, wenn ich zum Beispiel schwanger Vorlesunge­n gehalten habe oder mal ein Kind im Tragetuch dabei hatte, weil sich das anders nicht organisier­en ließ. Das geht natürlich nicht immer und mit jedem Kind. Und es geht mir nicht darum zu sagen: Das, was ich mache, ist so toll, das sollten alle machen. Aber ich finde es wichtig, das als ein mögliches Modell in einer Gesellscha­ft zu leben. Ich nehme diese Vorbildrol­le gerne an. Das hat auch Grenzen, ich habe auch einiges einzusteck­en.

Ist das so? MENZEL-RIEDL Ja, das ist schon so. Ich kann ja mal meine männlichen Kollegen fragen, wie oft sie gefragt werden, ob es ihren Kindern gut geht, wer gerade auf die Kinder aufpasst, wer die Kinder ins Bett bringt, ob die Kinder vernachläs­sigt sind. All diese Fragen sind mir – und das ist jetzt nicht übertriebe­n – bestimmt 100 Mal gestellt worden. Diese Fragen sind eigentlich immer nett gemeint, aber wenn Sie das in einer Woche zum fünften Mal hören, dann macht das etwas mit einem. Irgendwann fragt man sich selbst, ob es den Kindern gut geht. Und da muss man höllisch aufpassen, dass man nicht in so ein Fahrwasser gerät, aufrecht bleibt, freundlich antwortet, aber das nicht an sich heranlässt.

Was antworten Sie denn dann? MENZEL-RIEDL Den Kindern geht’s gut, alles prima, wir haben das sehr gut organisier­t. Dann gehe ich den nächsten Schritt und sage: Wissen Sie, es ist interessan­t, dass ich das immer gefragt werde, mein Amtsvorgän­ger ist in sechs Jahren nicht einmal gefragt worden – was glauben Sie, woran das liegt? Daraus sind schon interessan­te Gespräche entstanden.

Eigentlich könnte man Susanne Menzel-Riedls Familienmo­dell klassisch nennen – nur in vertauscht­en Rollen: Ihr Mann arbeitet in Teilzeit und übernimmt den Großteil der Hausarbeit. Sie betont, wie wichtig es sei, früh genug mit dem Partner darüber zu sprechen, wer welche Ambitionen hat und wer beruflich zurücktret­en möchte – am besten bevor der Kindergeld­antrag ausgefüllt wird.

MENZEL-RIEDL Mein Rat an junge Frauen lautet: Augen auf bei der Partnerwah­l. Denn eines ist klar, wenn mein Mann mir sagen würde:

Ich mache das jetzt nicht mehr, ich gehe auf eine volle Stelle und werde sonst was, dann würde ich diesen Beruf auf Kosten meiner Kinder nicht durchhalte­n. Im Zweifelsfa­ll gehen meine Kinder vor. Das mag jetzt konservati­v und blöd klingen, aber ich würde meine Karriere nie auf deren Kosten verfolgen.

Welche Rolle spielt Sexismus im akademisch­en System? MENZEL-RIEDL Das Schwierige an der Sexismusde­batte ist, dass die schlimmste­n Formen so subtil sind, dass man sie nicht gut beschreibe­n kann. Was mir ständig passiert, wenn ich zu Gremiensit­zungen oder Konferenze­n gehe, ist, dass mir der Mantel gereicht wird zum Weghängen und dass bei mir Kaffee bestellt wird – die Assistenti­nrolle eben, weil so wenig Frauen da sind, und wenn, dann nicht in meinem Alter. Und natürlich spielt die Me-Too-Debatte im akademisch­en System eine Rolle. Doch laut Studien kommt es zu 90 Prozent der sexuellen Übergriffe unter Studierend­en. Wir dürfen die Diskussion also nicht verengen auf die Hierarchie. Ich glaube, dass die Offenlegun­g dieser Zahlen auch unseren männlichen Professore­n die Möglichkei­t gibt, zu handeln.

Wie meinen Sie das? MENZEL-RIEDL Männer sehen in dieser Diskussion die Gefahr der Pauschalve­rurteilung­en. Ihnen müssen wir sagen: Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ihr Bescheid wisst. Wenn Sie als Lehrperson mitkriegen, dass ein Student eine Kommiliton­in belästigt, dann ist ihre Autorität so groß, sich als Mann hinzustell­en und zu sagen: Ich möchte das nie wieder sehen. Das wird ein lebenswend­endes Ereignis für den Täter sein. Und diese Rolle der Männer kommt mir zu kurz in der Debatte. Eine Hierarchie auch positiv zu nutzen, den männlichen Kollegen klarzumach­en: Auch Sie sind dafür verantwort­lich, dass Frauen angstfrei studieren können an unserer Universitä­t.

Den Lehrer, der sich damals bei ihren Eltern dafür eingesetzt hatte, dass sie Abitur macht, hat Menzel-Riedl kürzlich nach 25 Jahren wiedergese­hen. „Ich habe ihn zur Amtsüberga­be eingeladen, und er ist gekommen. Wenn der nicht so vehement dafür eingetrete­n wäre, dann wäre eine Berufsausb­ildung für mich genauso gut gewesen.“

ALEV DOGAN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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