Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Merkel setzt in Auschwitz ein Zeichen

Alles andere als Routine: Bei ihrem ersten Besuch im ehemaligen KZ ist der Kanzlerin tiefe Betroffenh­eit anzumerken.

- VON ULRICH KRÖKEL

AUSCHWITZ Ein schneidend­er Dezemberwi­nd weht Angela Merkel entgegen, als sie im Eingangsto­r unter dem berüchtigt­en Schriftzug „Arbeit macht frei“stehenblei­bt. Die Sonne strahlt, aber es ist eisig kalt an diesem Freitagmit­tag in Auschwitz. Das Tor zur Hölle ist dieser Ort genannt worden. Und tatsächlic­h sind die Krematorie­n nicht weit, in denen die SS wie am Fließband Leichen verbrennen ließ. Wie soll Merkel da in die Kameras schauen, die vor ihr und dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki surren und klicken? Das fällt selbst einer Bundeskanz­lerin nach 14 Jahren im Amt erkennbar schwer.

Merkel ist an diesem Freitag zum ersten Mal in Auschwitz, an dem Ort, an dem Deutsche mehr als eine Million Menschen nach einem perfiden Vernichtun­gsplan ermordet haben. Die meisten von ihnen mussten nur deshalb sterben, weil sie Juden waren. Sie wurden in Gaskammern gepfercht, erschossen oder als medizinisc­he Versuchska­ninchen missbrauch­t. Wie schwer das für eine Regierungs­chefin zu ertragen ist, die das Volk der Täter repräsenti­ert, bekennt Merkel später in ihrer Ansprache: „Ich empfinde tiefe Scham, wenn ich an die Verbrechen denke, die diesem Ort von Deutschen verübt wurden. Was hier geschah, ist mit dem menschlich­en Verstand nicht zu erfassen.“

Selbstvers­tändlich hat man solche Worte von deutschen Politikern auch bei anderen Gelegenhei­ten schon gehört. Aber Merkel vermittelt durch ihr ganzes Auftreten in Auschwitz den Eindruck, dass dies mehr ist als ein staatsoffi­zieller Pflichtbes­uch. Eher scheint die Kanzlerin einem inneren, zutiefst persönlich­en Drang zu folgen, dieses Zeichen noch im Amt zu setzen. Wer weiß schon, wie lange sie noch regiert?

Da ist zum Beispiel die Szene an der sogenannte­n Schwarzen Wand, einem Kugelfang aus dunklen Isolierpla­tten. Die SS und ihre Helfer vollstreck­ten an dieser Stelle Tausende willkürlic­h gefällte Todesurtei­le. Merkel und Morawiecki legen dort Kränze nieder und verharren für eine Schweigemi­nute. Anschließe­nd treten sie zurück und verfolgen die weitere Zeremonie. Doch dann gerät Merkel auf dem unebenen Untergrund leicht ins Straucheln und reicht Morawiecki unwillkürl­ich eine Hand, der sie sofort ergreift, um zu helfen. Ganz schnell ist alles wieder vorbei, aber die Geste sagt mehr als jede denkbare Inszenieru­ng.

Für Merkels persönlich­e Motivation spricht auch die Tatsache, dass sie keinen der großen historisch­en Anlässe gewählt hat, um sich dem Grauen zu stellen. Die Kanzlerin ist auf Einladung der Stiftung Auschwitz-Birkenau gekommen, die vor zehn Jahren gegründet wurde. Bereits im Vorfeld ihrer Reise hatte die Kanzlerin angekündig­t, dass Bund und Länder 60 Millionen Euro in einen Fonds einzahlen werden, um die Arbeit der Organisati­on zu unterstütz­en, die den Erhalt der KZ-Gedenkstät­te und damit auch einen Teil der Erinnerung dauerhaft sichern soll. „Wir bekennen uns zu einer deutlichen Erhöhung des

Stiftungsk­apitals“, versichert Merkel am Freitag in ihrer Rede.

Doch wie gedenkt man jener Verbrechen am besten, die jenseits des menschlich­en Vorstellun­gsvermögen­s angesiedel­t sind? Merkel wiederholt fast wortgleich jenen Satz, den auch Helmut Schmidt schon 1977 gesagt hatte, der als erster Bundeskanz­ler nach Auschwitz gekommen war. Vor Entsetzen müsse man an diesem Ort eigentlich verstummen, sagt Merkel. Aber Schweigen dürfe keinesfall­s die einzige Antwort sein. Man müsse die Täter benennen und den Opfern ein würdiges Andenken erhalten. „Einen Schlussstr­ich darf es nicht geben.“

 ?? FOTO: DPA ?? Angela Merkel spricht im ehemaligen deutschen KZ Auschwitz-Birkenau. Hinter ihr an der Wand hängen Fotos einiger der 1,1 Millionen hier Ermordeten.
FOTO: DPA Angela Merkel spricht im ehemaligen deutschen KZ Auschwitz-Birkenau. Hinter ihr an der Wand hängen Fotos einiger der 1,1 Millionen hier Ermordeten.

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