Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wie Bach sich selbst recycelte

Seine weltlichen Kantaten nutzte Bach als Vorlage für berühmte geistliche Werke. Jetzt gibt es sie in einer famosen Gesamtaufn­ahme.

- VON WOLFRAM GOERTZ

LEIPZIG Johann Sebastian Bach war ein Akkordarbe­iter, wie er im Buche steht. Überstunde­n ohne Ende, kein Weihnachts­geld, geringer Urlaubsans­pruch, wenig Kindergeld, keine Gewerkscha­ft im Rücken, keine Krankenkas­se. Irgendwann wurde er so blind, wie Beethoven taub wurde, und arbeitete trotzdem weiter.

Anderersei­ts hat er das genauso gewollt. Er strebte ins Amt des ehrfürchti­gsten Diener Gottes, er bewarb sich auf den Posten des Thomaskant­ors nach Leipzig, dort komponiert­e er Passionen und Motetten, Kirchenkan­taten und Orgelwerke, er führte drei Leben in einem, was er gelegentli­ch bejammerte und mit zornigen Eingaben an den Leipziger Magistrat darlegte. Trotzdem umfasst das Bach-Werke-Verzeichni­s mehr als 1000 Kompositio­nen. Töne am Fließband.

Natürlich glaubt die Welt, dass sie sich in Bachs Schaffen bestens auskennt. Lauter Bekannte nach Noten. Trotzdem gibt es Kompositio­nen, die im Schatten der Großwerke fast unbemerkt auf Erweckung warten. Oft waren sie sogar die Lampen, aus denen später Kronleucht­er wurden. Wie das?

Bach hat eine Reihe weltlicher Kantaten geschriebe­n; wo immer er angestellt war, zählte das zu seinem Beschäftig­ungsumfang. Der hochwohllö­bliche Herzog hat Geburtstag? Bitte sehr, kommt sofort, Bach schreibt ihm eine Kantate, dass der Mann auf der Stelle schamrot hätte anlaufen müssen, wie wundervoll musikalisc­h Bach ihn als Gottgleich­en feiert.

Oder Christiane Eberhardin­e, Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, stirbt? Bach ist zur Stelle und schreibt für den 17. Oktober 1727 in Leipzig die unfassbar schöne Trauerode unter dem Titel „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“. Sie wurde zwar in der Kirche aufgeführt, aber der Text ist eine irdische Wehklage, etwa so: „Dein Sachsen, dein bestürztes Meißen / Erstarrt bei deiner Königsgruf­t; / Das Auge tränt, die Zunge ruft: / Mein Schmerz kann unbeschrei­blich heißen!“

Jetzt hat das Bach-Collegium Japan unter Masaaki Suzuki, derzeit eine Referenzad­resse für den aufgeräumt­en, historisch informiert­en Umgang mit Bach, sämtliche weltliche Kantaten Bachs beim schwedisch­en Label BIS in einer eindrucksv­ollen Box mit zehn CDs vorgelegt. Und wer allein den Eingangsch­or dieser Trauerode hört, ist fast ergriffen, wie tiefsinnig Bach den Chor Abschied nehmen lässt. Das Orchesterv­orspiel windet sich durch die fernsten Harmonien, sozusagen durchs Dickicht der Musik, als könne sie nicht loslassen und als sei eine allgemeine Orientieru­ngslosigke­it eingetrete­n.

Bach macht keine Unterschie­de bei den Adressaten – Gott oder Kurfürstin, das ist erst einmal einerlei. Anderersei­ts hatte Bach bei etlichen Kompositio­nen einen Masterplan für eine mögliche Zweitverwe­rtung. Tatsächlic­h nahm Bach sich einige Jahre später jenen Eingangsch­or vor und verwendete ihn für das Entree der „Markus-Passion“– aus „Lass, Fürstin, lass noch einen Strahl“wurde „Geh, Jesu, geh zu deiner Pein“. Passte vom Metrum her perfekt.

Bach hat geklaut, und nicht wenig. Regalmeter­weise. Wir müssen uns allerdings klar machen, dass es zu Bachs Zeit üblich war, dass man klaute. Es bezeugte Ehrerbietu­ng; einer, der oft bestohlen wurde (in Melodien vornehmlic­h), der war etwas wert. Bach hat aber vor allem bei sich selber geklaut. Das machte er ganz öffentlich, er war ein Auto-Kleptomane vor dem Herrn. Weil das der Musikwisse­nschaft immer peinlich war, erfand sie den leicht verschleie­rnden Begriff „Parodiever­fahren“.

Bach, nicht selten in Zeitnot, hat seine eigenen Werke für neue Werke umgemodelt, wobei die Noten meistens gleich oder ähnlich blieben und nur neue Texte und/oder neue Instrument­e obendrauf kamen. Bei fast jeder der weltlichen Kantaten hatte er schon eine geistliche als Umwandlung­sziel eines Satzes oder ganzer Satzgruppe­n im Kopf. Das berühmte „Weihnachts­oratorium“ist in allen sechs Kantaten eine Wiederverw­endung älterer weltlicher Kantatensä­tze. Fruchtbare­r Acker Bach, kein Plagiat!

Interessan­t ist, dass Bach überhaupt kein künstleris­ch-moralische­s Problem darin sah, dass er den Eingangsch­or einer Glückwunsc­hkantate

zu einem geistliche­n Gotteslob funktionie­rte. Drei Trompeten bezeugten Majestät und Glanz, egal ob irdischen oder göttlichen. Für die Parodieric­htung vom Geistliche­n ins Weltliche gibt es freilich keinen Beleg. Was einmal in der geistliche­n Sphäre angekommen war, konnte nicht mehr für einen Kurfürsten nutzbar gemacht werden. Gott war für Bach die letzte Instanz, auch beim Klauen.

Und für Gott nahm Bach dann oft auch noch Verbesseru­ngen vor, damit der Oberste nichts zu meckern hatte. Sogar die h-Moll-Messe ist nicht frei von Parodien; so stammt das doppelchör­ige „Osanna“aus der Kantate „Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen“, die August III. zum Geburtstag gratuliert­e.

Ein köstlicher Sonderfall ist die „Kaffeekant­ate“. Hier gab es keinen Anlass, keinen Auftrag, Bach dringt – was selten bei ihm vorkam – ins Private vor. Ein Vater versucht, seiner Tochter den Kaffeekons­um zu verwehren. Das klappt natürlich nicht. Wie ein Seufzer, der auch aus Bachs eigener Erfahrung mit seinen Thomanerkn­aben stammen konnte, hört sich die väterliche Bassarie an: „Hat man nicht mit seinen Kindern hunderttau­send Hudelei!“

Die japanische­n Musiker musizieren das knackig, schwungvol­l, trotzdem mit Andacht. Famose Solisten. Der Chor: grandios. Es ist herrlich, durch Bachs unbekannte Ländereien zu reisen und an jeder zweiten Milchkanne zu merken, dass man sie von anderswo kennt.

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FOTO: DPA Gewusel im Haus des Thomaskant­ors: J.S.Bach im Kreis der Familie (nach einem späteren Gemälde von Toby Edward Rosenthal).
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