Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Kinderschutzambulanz zur Wohlstandsverwahrlosung.
Die Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land über ihre Arbeit, deren Finanzierung und Spenden-Neid.
Remscheid hat am Standort des Sana-Klinikums ein Alleinstellungsmerkmal: die Ärztliche Kinderschutzambulanz Bergisch Land. Was hat Remscheid, was andere Städte nicht haben?
Birgit Köppe-Gaisendrees Wenn man darüber nachdenkt, was bestenfalls Standard sein sollten, um in Fällen von Gewalt einen effektiven Kinderschutz zu gestalten, weiß man mittlerweile: Man braucht eine enge Kooperation zwischen den Systemen Jugendhilfe und ärztlicher Hilfe. Wir sind jetzt seit 30 Jahren als interdisziplinäre Ambulanz am Standort. Wir stellen diese enge Kooperation sicher. Und das ist das Besondere in Remscheid. Außerdem sind wir froh, dass wir in einem anderen Gebäude arbeiten können, aber wenn es nötig ist, Kinder in der Kinderklinik am Sana unterbringen zu können.
Wie viele Fälle betreuen Sie in der Ambulanz im Jahr? Köppe-Gaisendrees Etwas mehr als 400 Fälle.
Ist die Tendenz steigend? Köppe-Gaisendrees Kann ich nicht sagen, weil wir immer über dem Maximum liegen. Wir arbeiten eigentlich sogar immer über das hinaus, weil wir auch viele Notfälle betreuen. Aber die Bemühungen durch den Gesetzgeber, durch Fortbildungen, aber auch durch die Sensibilisierung der Gesellschaft haben dazu geführt hat, dass die Menschen sensibler geworden sind. Aber: Es gibt dazu auch eine gesetzliche Verpflichtung, bei einer drohenden Kindeswohlgefährdung genau hinzugucken. Es kommt also vor, dass Schulen oder Kindergärten sowie Mutter-Kind-Einrichtungen hier anrufen. Aber aus dem Städtedreieck durchaus auch Eltern. Ab und an auch Jugendliche, die sich selbst an uns wenden.
Also zeigen die Menschen sexuellen Missbrauch heute eher an? Köppe-Gaisendrees Wir behandeln ja hier nicht nur sexuell missbrauchte Kinder. Natürlich ist das Erschrecken in der Gesellschaft bei sexuellem Missbrauch viel höher, verständlicherweise. Aber wir sehen hier auch viele Kinder mit sexuellen Gewalterfahrungen, die auch extrem vernachlässigt wurden. Man muss also immer auch auf andere Gewaltformen gucken, insbesondere auf die Vernachlässigung. Weil die halt leider auch oft ein Nährboden ist für das, was danach passiert.
Mit welchen Fällen von Vernachlässigung haben Sie es hier zu tun? Köppe-Gaisendrees Mit allen. Mit ausgetrockneten Säuglingen, die nicht genügend Flüssigkeit bekommen, mit Kindern, die Schuhe haben, die drei Nummern zu klein sind oder Hosen tragen, die viel zu eng sind, so dass die Kinder Bauchschmerzen bekommen. Mit Kinder, die nicht ausreichend zu Essen bekommen oder in einem schlechten hygienischen Zustand sind, bei denen zum Beispiel schon die Milchzähne entfernt werden müssen, weil sie so verfault sind. Also mit vielen Bereichen von Vernachlässigung, was für die meisten Menschen nicht vorstellbar ist.
Sie sagen, Sie arbeiten über das Maximum hinaus. Das heißt, das Team von zwölf Therapeuten und den beteiligten Ärzten reicht nicht aus, um der Flut an Hilfsanfragen gerecht zu werden? Köppe-Gaisendrees Nein. Wir haben mittlerweile Jugendämter aus ganz NRW, die Diagnostiken anfragen und je nachdem, was gerade passiert, zum Beispiel die schlimmen Geschichten aus Bergisch Gladbach, Land unter. Weil wir eben hier in einem Arbeitsbereich arbeiten, bei dem wir nicht sagen können: Wir haben erst in einem halben Jahr einen Termin. Ich will nicht immer nur jammern, aber wir haben hier nicht die Fälle, in denen sich Eltern beraten lassen wollen und eine Problemeinsicht zeigen, sondern wir haben fast ausschließlich Fälle, in denen es um Kindeswohlgefährdung geht. Um Kinder, die verprügelt werden, um Kinder, die auf dem Boden liegen und auf denen rumgetrampelt wird und die dann mit schweren inneren Verletzungen hier hin kommen. Oder Kinder, die stark gedemütigt werden: die zum Beispiel lange schweigend in der Ecke stehen müssen oder vermittelt bekommen: Du bist sowieso nichts wert. Oder auch Fälle von Pornografie. Kinder, die sich aufgrund von solchen Erfahrungen stark nach Aufmerksamkeit sehnen, werden manchmal auch Opfer von sexuellem Missbrauch. Das Erschreckende ist ja, dass so etwas oft in Familien passiert, in denen Kinder ja eigentlich sicher sein sollten. Das zeigt auch die Brisanz unserer Arbeit hier.
Müsste man denn dann nicht eigentlich auch die Eltern therapieren?
Köppe-Gaisendrees Ja, immer. Wir haben grundsätzlich die Haltung, gerade bei den kleineren Kindern, die Eltern bestenfalls mit ins Boot zu kriegen. Viele Eltern weigern sich aber leider auch.
Ist Vernachlässigung ein Schichtenproblem?
Köppe-Gaisendrees Nein. Gewalt an Kindern ist kein Problem bestimmter sozialer Schichten. Was man sagen kann, ist, dass die Familien, die nicht der Mittelschicht oder den Akademikerkreisen angehören, sind auch die Familien, die nicht unbedingt so schnell auffallen. Bei Familien, die einen höheren gesellschaftlichen Status haben, erleben wir, dass Kinder ebenfalls unter diesem sozialen Status stehen. In Akademikerfamilien haben Sie keine Vernachlässigung im Sinne von Schuhen, die drei Nummern zu klein sind, oder Kinder, die mit vollurinierten Klamotten in der Schule sitzen, sondern hier geht es eher um Wohlstandsverwahrlosung. Das sind Kinder, die zu viel haben – an Medien, an super Kleidung, aber um die sich emotional keiner kümmert. Und sexueller Missbrauch kommt in allen Ebenen vor – sogar in der Kirche.
Wie wird die Arbeit, die Sie hier leisten, finanziert? Köppe-Gaisendrees Wir bekommen zwar Fördermittel vom Land und wir werden auch von der Stadt Remscheid unterstützt, wir müssen aber immer auch einen Teil der Finanzierung, um den Stellenschlüssel so halten zu können, wie er ist, über Spenden stemmen. Daher sind wir ein gemeinnützig anerkannter Verein. An dieser Stelle möchte ich gerne einmal etwas loswerden. Manchmal ist die Gerüchteküche ,Die Kinderschutzambulanz kriegt zu viele Spenden‘ sehr aktiv. Mich macht das wirklich sauer. Jeder kann hier gerne einmal eine Woche mitarbeiten. Und dann können wir darüber reden, wie es sich anfühlt, wenn man diese Kinder, Geschichten und Diagnosen sieht und dann auch noch dafür sorgen muss, Spendengelder zu kriegen. Die Stadt Remscheid hat sich dieses Jahr mit einem Ratsbeschluss zum Glück dazu entschlossen, dass wir auch die Remscheider Fälle fallbezogen abrechnen können, vorher gab es eine Pauschale – und die war irgendwann aufgebraucht. Aber es bleiben Bereich wie Sekretariat, Neuanschaffungen, Materialien, Testverfahren. Also: Ja, wir brauchen auch weiter Spenden, etwa 100.000 Euro pro Jahr.
DAS GESPRÄCH FÜHRTE MELISSA WIENZEK