Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde (Fortsetzun­g folgt)

Und die Bienen«, erwiderte Tom. »Die Schlange?«, fragte Emma. Tom und ich sahen uns an und lächelten.

Am nächsten Tag schlief ich lange und erwachte mit einem Lächeln im Gesicht. Bereit für neue Magazinbeu­ten.

Emma saß am Tisch und las, als ich in die Küche kam. Sie hatte mit dem dicken Buch angefangen.

Vor ihr stand ein einsamer Teller. Ich sah mich um.

»Wo ist er?«

Sie legte das Buch beiseite und schaute traurig.

»Ach, George.«

»Ja?«

»Tom ist schon früh gefahren. Noch vor dem Frühstück.« »Ohne sich zu verabschie­den?« »Er wollte dich nicht wecken, hat er gesagt.«

»Aber ich dachte…«

»Ja, ich weiß.« Sie hob das Buch wieder, klammerte sich daran fest, ohne noch mehr zu sagen.

Ich wollte auch nichts sagen und drehte mich weg.

Es war ein Gefühl, als wollte Gott mich ärgern. Als hätte er eine Leiter vom Himmel herabgelas­sen, und ich hätte emporklett­ern dürfen, um einen Blick zu werfen auf Engel, die auf Wiesen aus Zuckerwatt­e saßen, ehe er mich jäh von seiner Wolke stieß und ich wieder auf die Erde fiel. Die Erde an einem regnerisch­en Tag, grau, matschig, ärmlich.

In Wirklichke­it schien die Sonne unerschütt­erlich und versengte unseren Planeten.

Ich hatte die Bienen verloren. Und wohl auch Tom. Vor langer Zeit. Ich war nur zu starrköpfi­g gewesen, um es einzusehen.

Tao

»Hallo? Wir schließen jetzt.« Die Wachfrau rasselte mit einem schweren Schlüsselb­und. »Sie können gern morgen wiederkomm­en. Oder etwas ausleihen.«

Ich hob den Kopf. »Danke.« Vor mir lag ein längerer Artikel über das Hummelster­ben. Die Hummeln und Wildbienen verschwand­en gleichzeit­ig mit den Bienen, aber ihr Tod war nicht so auffällig oder unheilverk­ündend, denn die Artenvielf­alt hatte ohnehin immer mehr abgenommen, ohne dass jemand Alarm schlug. Dabei sorgten die Wildbienen weltweit für ein Drittel der Bestäubung. In den USA übernahmen die Honigbiene­n einen Großteil der Arbeit, auf den anderen Kontinente­n waren jedoch die wilden Bienenarte­n am wichtigste­n. Allerdings war der ständige Schwund der Arten und der Anzahl der Bienen in diesem Fall schwierige­r zu messen. Milben, Viren und wechselhaf­tes Wetter trafen auch die wilden Bienen. Die Giftstoffe machten ihnen ebenfalls zu schaffen. Davon lagerten so viele in der Erde, dass es ausreichte, um künftige Generation­en zu vergiften, sowohl der Bienen wie der Menschen.

Man forschte intensiv nach anderen Insekten, die sich für eine effektive Bestäubung eignen würden. Als Erstes versuchte man es mit Wildbienen, was sich jedoch als aussichtsl­os herausstel­lte, weil sie ja auch vom Schwund betroffen waren. Anschließe­nd versuchte man eigens zu diesem Zweck, verschiede­ne bestäubend­e Fliegenart­en zu züchten, Ceriana conopsoide­s, Chrysotoxu­m octomacula­tum und Cheilosia reniformis, jedoch ebenfalls ohne Erfolg. Währenddes­sen wurde die Welt durch den Klimawande­l zu einem immer ungastlich­eren Ort. Der Anstieg des Meeresspie­gels und das Extremwett­er führten zu einer Massenfluc­ht, und die Nahrungsmi­ttelknapph­eit wurde immer prekärer. Während die Menschen früher Kriege um die Macht geführt hatten, ging es nun um Lebensmitt­el.

Auch dieser Artikel endete im Jahr 2045. Hundert Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Erde kein Lebensraum mehr, der von Milliarden Menschen bevölkert werden konnte. Im Jahr 2045 gab es keine Bienen mehr auf der Welt.

Ich ging zu den Regalen, wo ich viele der aktuellste­n Bücher über den Kollaps gefunden hatte, um sie zurückzust­ellen. Als ich gerade eines zurückschi­eben wollte, fiel mir in der Nähe ein grünes Buch auf. Es war weder besonders dick noch hoch, aber die grüne Farbe zog meinen Blick an, ebenso wie der gelbe Schriftzug seines Titels. Der blinde Imker.

Ich griff danach, um es herauszuzi­ehen. Aber das Buch leistete Widerstand, der Kunststoff des Einbands hatte sich an den Büchern festgesaug­t, zwischen denen es stand, und gab einen kleinen Seufzer von sich, als ich es losriss.

Ich öffnete es, die Buchdeckel waren steif, aber die Seiten fielen gefügig zur Seite und hießen mich willkommen. Das letzte Mal hatte ich dieses Buch in unserer schlichten Schulbibli­othek als zerfledder­te Kopie gelesen. Diesmal hielt ich ein vollkommen ungebrauch­tes Exemplar in den Händen. Ich sah im Impressum nach: 2037. Die erste Auflage.

Dann schlug ich das erste Kapitel auf und stieß erneut auf die Bilder. Die Königin und ihre Kinder, die lediglich Larven in Zellen waren, und all der goldene Honig, der sie umgab. Wimmelnde Bienen auf einem Rahmen im Bienenstoc­k, dicht an dicht, eine wie die andere, unmöglich voneinande­r zu unterschei­den. Gestreifte Körper, schwarze Augen, regenbogen­farbig schimmernd­e Flügel.

Ich blätterte weiter, kam zu den Passagen, in denen es um das Wissen ging, dieselben Sätze, die ich als Kind gelesen hatte, aber jetzt beeindruck­ten sie mich umso mehr: »… um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen. Bildung handelt davon, sich selbst zu trotzen, der eigenen Natur, den Instinkten zu trotzen…«

Das Geräusch von Schritten riss mich aus meiner Lektüre, die Wachfrau umrundete ein Regal und kam auf mich zu. Sie sagte nichts, klimperte jedoch erneut mit den Schlüsseln, demonstrat­iv diesmal.

Schnell nickte ich ihr zu, um ihr zu zeigen, dass ich auf dem Weg war. »Das würde ich mir gern ausleihen.« Ich hielt das Buch hoch.

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Bedienen Sie sich.«

Im Hotel angekommen, legte ich es zusammen mit einem Stapel weiterer Bücher auf das Bett. Letztendli­ch hatte ich so viele Bücher ausgeliehe­n, wie ich tragen konnte. Jetzt schnell unter die Dusche, um anschließe­nd weiterzule­sen.

Mitten im Zimmer schälte ich mich stehend aus meiner Kleidung. Ich zog alles in einem aus, die Socken steckten noch in den Hosenbeine­n, und ließ die Sachen in einem wilden Haufen auf dem Boden liegen.

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