Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Frau Kobalds letzter Wunsch
Nina Kobald aus Dortmund ist 43 Jahre alt und sterbenskrank. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr – sie wollte aber unbedingt noch eine Ausstellung an ihrer Schule besuchen. Der ASB-Wünschewagen hat sie hingefahren.
DORTMUND Sie geht mit einer LaOla-Welle: Als Nina Kobald zum letzten Mal die Cafeteria des Westfalen-Berufskollegs in Dortmund verlässt, winkt sie wie eine Königin. Auf einer Trage wird sie hinausgefahren, ihre Kollegen stehen an der Tür und jubeln ihr zu. Sie strahlt und lacht. Dass sie bald sterben wird, ist an diesem Tag ganz weit weg.
Kobald hat Lungenkrebs, Ende Mai bekam sie die Diagnose, direkt danach Chemotherapie und Bestrahlung. Vor einem Monat wurde die Behandlung abgebrochen, seit zwei Wochen lebt die 43-Jährige im Hospiz. „Wenn ich sie so sehe“, sagt ihre Frau Daniela Heimann in der Schulcafeteria, „ist das alles nur schwer zu begreifen.“Die beiden haben spontan am 19. Juni geheiratet, „eine Büro-Hochzeit“, sagt Kobald, „danach ging es weiter zur Chemo.“Sie ist Lehrerin für Kunst und Pädagogik, sechs Jahre lang hat sie an dem Berufskolleg unterrichtet. Ihr letzter Schultag war Anfang Juni, während ihrer Behandlung konnte sie nicht mehr unterrichten.
Bis jetzt. Kobald ist gekommen, um sich eine Ausstellung ihres Projektkurses anzusehen. Die Schüler machen hier ihr Abitur nach, der Kurs ist eine Ergänzung dazu, eine Möglichkeit, innerhalb eines Jahres ein eigenes kreatives Projekt umzusetzen. Vier Jahre hat sie die Kurse geleitet, im Schulkeller gemeinsam mit Schülern sogar einen eigenen Raum dafür geschaffen. Eigentlich finden die Präsentationen immer erst Ende Januar statt. Doch diesmal wurde eine Ausnahme gemacht.
Denn es war Nina Kobalds letzter großer Wunsch, sich die Ausstellung noch ansehen zu können. Er geht an einem frostig kalten Donnerstagmorgen im Dezember in Erfüllung. Möglich gemacht haben das die Schulleitung und der sogenannte Wünschewagen des Arbeiter-Samariter-Bundes. Mit einem umgebauten Krankenwagen werden Sterbenskranke zu ihren Lieblingsorten gefahren, zu einem Konzert oder noch einmal ans Meer. In Nordrhein-Westfalen gibt es drei dieser Wagen, der erste wurde vor fünf Jahren in Essen eingerichtet, als erster bundesweit. Insgesamt 250 Wunschfahrten wurden 2019 in NRW durchgeführt. Fast täglich bekommen die Koordinatoren eine Anfrage – innerhalb weniger Tage können die Fahrten in der Regel organisiert werden.
Die Wagen sind mit einer Trage ausgestattet, damit auch Menschen
„Heute freuen wir uns. Es kommen noch so viele andere Tage“
Daniela Heimann Ehefrau von Nina Kobald mitfahren können, die nicht mehr sitzen können. An den Fenstern sind Sternchen-Aufkleber angebracht, von außen sind sie verdunkelt, sodass keiner hineinschauen kann – die Mitfahrer aber nach draußen. Kobalds Fahrt gehört zu den kürzeren, etwa fünf Kilometer sind es vom Hospiz zum Berufskolleg.
Um Viertel vor zehn werden sie und Heimann abgeholt. In ihrem hellen Zimmer im Hospiz heben die drei ASB-Ehrenamtler Stephan Korbas, 36, Rettungssanitäter, Alexander Offermann, 66, Rentner, und Jens Bodin, 53, Krankenpfleger, Kobald auf die Trage. Sie halten sich den Tag über im Hintergrund, sorgen aber dafür, dass es Kobald gut geht und sie keine Schmerzen hat. Sie schieben die Trage, verstellen sie, wenn nötig. „Unser Einsatz endet, wenn der Fahrgast das Zeichen gibt“, sagt Stephan Korbas, der seine fünfte Wünschewagen-Fahrt betreut. Auf der Trage haben sie eine Bettdecke und Kissen bereitgelegt – damit Kobald nicht friert, aber auch, „damit es nicht so sehr nach Krankenhaus aussieht“, sagt Bodin.
Laufen kann sie nicht mehr, der Krebs hat ihre Wirbelsäule zerstört. Auf dem Kopf trägt sie, die ihre langen, blonden Haare immer so mochte, eine Perücke. Ihr Blasenkatheter wird an die Trage gehängt, sie hat Augenringe und packt Bonbons gegen den trockenen Hals ein. „Das ist Ihr Tag, genießen Sie ihn“, sagt eine Hospiz-Mitarbeiterin. Dann geht es los, die Fahrt dauert nur eine knappe Viertelstunde. Dafür geht es an einigen Sehenswürdigkeiten ihrer Heimatstadt vorbei, dem Dortmunder U etwa und dem Fußballmuseum.
Als der Wagen auf den Schulhof rollt, sind die ersten Kollegen schon da. Es gibt spontanen Applaus, umarmen darf Kobald aber keiner von ihnen – wegen der Infektionsgefahr. „Behaltet eure Bazillen für euch“, sagt sie. „Nina ist eine besonders engagierte und beliebte Lehrerin“, sagt Schulleiterin Wanda Klee, „sowohl bei den Schülern als auch bei den Kollegen. Sie holt aus den Menschen die besten Seiten heraus.“Durch den Lieferanteneingang geht es ins Schulgebäude, auf dem Weg in den Keller muss eine Treppe genommen werden – kein Problem, alle packen mit an. Rund 20 Kollegen begleiten den Rundgang, sie haben rosa Taschentücher mitgebracht. „Kommt, heute freuen wir uns“, sagt Daniela Heimann zu ihnen, „es kommen noch so viele andere Tage.“
In der Ausstellung erklären die Schüler ihrer Lehrerin die Projekte. Joshua und Yannick beispielsweise haben aus Metall, das sie mit einem Magneten aus dem Dortmund-Ems-Kanal
gefischt haben, das Dortmunder U nachgebaut. „Sie hat uns immer behandelt wie Erwachsene und ernstgenommen“, sagt Joshua. Kobald diskutiert über jedes Projekt mit den Schülern, freut sich mit ihnen über ihre Fortschritte. „Ich habe mal gehört, man stirbt, wie man lebt“, sagt Heimann, die während des gesamten Rundgangs in Kobalds Nähe bleibt.
Als letztes schaut sich die Gruppe eine kleine Leseecke an, die einer der Schüler eingerichtet hat, mit Vintage-Sessel und -Lampe sowie Bildern an der Wand. Eines davon zeigt Nina Kobald, bevor der Krebs kam. Ihr Gesicht und ihre Haare strahlen in der Sonne. Sie nimmt es in die Hand, hält es in die Runde
und bedankt sich: „Das war ganz, ganz toll. Ich würde mich so freuen, wenn ihr dafür einen schönen Platz findet.“Ihre Stimme bricht. Dann fordert sie ihre Schüler zum Gruppenfoto auf – und lacht wieder. Die Schüler haben Tränen in den Augen.
Anschließend gibt es in der Cafeteria eine Waffel mit heißen Kirschen für alle. Vier Treppen sind es auf dem Weg dorthin. Im Hintergrund läuft „Last Christmas“, es riecht nach frischem Kaffee und Zimt. Kobald schäkert mit ihren Kollegen, immer wieder kommen auch Schüler an den Tisch. „Sie sehen gut aus“, sagt eine Schülerin, „Sie schaffen das!“
Nina Kobald verzieht keine Miene. Es ist ein schöner, ein schmerzhafter Tag, aber sie macht es allen leicht. Sie erzählt, sie lacht, sie winkt. „Ich bin wie eine Königin auf meiner Sänfte“, sagt sie, es fällt kein Wort über den Krebs, kein Wort über den nahen Tod. Gegen Mittag wird sie müde, der Wünschewagen bringt sie zurück ins Hospiz. „Ein toller Tag“, sagt sie ein paar Tage später, „ich strahle und leuchte immer noch, wenn ich daran denke.“
Auf dem Schulhof, bei den Fahrradständern, da, wo sie immer ihr Fahrrad abgestellt hat, hat einer ihrer Schüler ein riesiges Graffiti auf eine Mauer gesprüht. Ihr Nachname ist dort in riesigen Lettern verewigt, daneben ein großer, bunter Vogel. Er breitet die Flügel aus und fliegt.