Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Wir wissen über Löhne mehr als die Politiker“
Das Samstagsinterview mit Ingo Kramer (66), Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
BERLIN Der Arbeitgeberpräsident erscheint in bester Stimmung zum Gespräch in unseren Berliner Redaktionsräumen. Bei gutem Winterwetter außerhalb des eigenen Büros im Haus der Wirtschaft wenige Kilometer entfernt unterwegs zu sein, gefällt Ingo Kramer. Der Bremer hat keine Berührungsängste mit Berlin.
Herr Kramer, sind Sie eigentlich erleichtert, dass die Groko nach dem SPD-Parteitag vorerst weitermacht?
KRAMER Ob sie weitermacht, scheint mir die SPD in der Schwebe halten zu wollen. Ich habe das so verstanden, dass die SPD zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden will, ob es weitergeht. Das Motiv dahinter ist klar: das Erpressungspotenzial gegenüber der Union weiterhin hoch zu halten.
Welchen Eindruck haben Sie von den beiden neuen SPD-Chefs?
KRAMER Ich kenne sie persönlich bisher nicht. Wenn sich Herr Walter-Borjans und Frau Esken länger halten, wird sich sicherlich eine Gelegenheit finden, sie auch kennenzulernen.
Sie glauben nicht, dass die beiden länger im Amt bleiben?
KRAMER Für die nächsten zwei Jahre sind sie gewählt, aber die Halbwertszeit von SPD-Vorsitzenden war in den vergangenen Jahren kürzer. Bisher haben sie noch nicht unter Beweis gestellt, dass sie neben Forderungen
stellen auch eine gelingende und aktiv nach vorne gerichtete Politik machen können. Herr Walter-Borjans war zwar Finanzminister in Nordrhein-Westfalen, er ist aber mit mehreren seiner Landeshaushalte vor dem Verfassungsgericht gescheitert.
Die Wirtschaft wünscht sich Planungssicherheit. Haben Sie die?
KRAMER Nein. Planungssicherheit hätte gebracht, wenn es ein klares Bekenntnis der SPD zu dieser großen Koalition und ihrer Ministerriege gegeben hätte. Wir kommen vom Regen in die Traufe. Und den Linksschwenk der SPD mit all ihren die Wettbewerbsfähigkeit einschränkenden Ideen braucht die Wirtschaft schon mal gar nicht.
Aber es gibt doch auch arbeitgebernahe Institute wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das 450 Milliarden Euro Mehrinvestitionen des Staates in den kommenden zehn Jahren fordert. Nichts anderes will die SPD.
KRAMER Wissenschaftliche Institute wie das IW müssen frei und quer denken können. Dringend notwendige Investitionen – von Straßenund Gleisbau bis hin zu Breitbandverkabelung und stabilem Mobilfunknetz sowie Bildung und Schulen – sind vernachlässigt worden. Die weiterhin geäußerte Idee einer Umgehung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse teile ich aber in keiner Weise. Verantwortungsvollen
Politikern bietet sie auch regulär genügend Spielraum.
Warum nicht? Es gibt doch einen riesigen Investitionsstau in den Schulen oder bei der Digitalisierung.
KRAMER Stimmt, aber wir haben im Moment kein Finanzproblem. Nach Neuverschuldung zu rufen, während wir fast 60 Milliarden Euro nicht abgerufener Investitionsmittel und Rücklagen vor uns herschieben, ist nicht nachvollziehbar. Ich sage: Investitionen müssen jetzt vor Konsum Priorität bekommen und kümmert euch doch endlich mal darum, die Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, damit Investitionen zeitnah durchgeführt werden können und nicht auf einer Wunschliste versauern.
Die SPD will auch den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen…
KRAMER … zwölf Euro wird auch sicherlich erreichbar sein. Wenn die allgemeinen Löhne so gestiegen sind, dass auch beim Mindestlohn diese Höhe erreicht sein wird…
…aber auch die CDU hat einen Parteitagsbeschluss, wonach die Kriterien zur Mindestlohnfestlegung so erweitert werden sollen, dass er schneller steigen kann…
KRAMER Ich gehe davon aus, dass der kluge Beschluss, den Mindestlohn an die Tariflohnentwicklung zu koppeln, Bestand haben wird. Alles andere würde dazu führen, dass die Tarifpartner in der Mindestlohnkommission überflüssig würden. Die Politiker wissen nicht besser als die, die in den Branchen zuhause sind, wie die Löhne aussehen sollen.
Welche Folgen hätte ein politisch festgelegter Mindestlohn?
KRAMER Damit würde die Tarifautonomie ausgehöhlt, die Verfassungsrang hat. Wenn man als Politiker glaubt, die Lohnfindung besser zu können als die Tarifpartner, legt man die Axt an die gesamte Sozialpartnerschaft und damit an eine der tragenden Säulen der sozialen Marktwirtschaft. Davon würde ich dringend abraten.
Die jüngste Pisa-Studie hat uns gezeigt, dass ein Fünftel der 15-Jährigen in Deutschland nicht richtig
lesen kann. Was heißt das für die Fachkräftesicherung?
KRAMER Der Mangel an Fachkräften ist das größte gesamtwirtschaftliche Risiko der näheren Zukunft in Deutschland. Der Staat, die Schulen müssen heute einfach viel stärker als früher auffangen, was manche Elternhäuser nicht mehr leisten. Lehrer brauchen eine größere Wertschätzung, eine bessere Ausbildung und eine angemessene Bezahlung ohne immer wieder befristete Verträge. Die Grundlage einer jeden Lösung liegt in der vorschulischen Bildung: Jedes Kind muss vor der Einschulung einwandfrei deutsch sprechen können. Das ist doch das Fundament, um hinterher lesen und schreiben zu lernen und für alles weitere.
Das werden Sie Frau Merkel auch auf dem Gipfel zur Fachkräftesicherung am Montag sagen?
KRAMER Das ist vor allem die Aufgabe der Ministerpräsidenten und der Kultusminister. Wir kümmern uns jetzt glücklicherweise um eine dringend notwendige bessere Steuerung der Einwanderung von Fachkräften. Aber dabei dürfen wir auch die Bildungsanstrengungen bei unseren Kindern nicht außer Acht lassen. Die Pisa-Studie ist doch ein Alarmzeichen. Wir müssen die Qualität unserer Bildung massiv und über alle Schulformen hinweg verbessern.
BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.