Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Von der Protest- zur Volkspartei
Vor 40 Jahren gründeten die Grünen ihren Landesverband in NRW. Nach ihrer Wahlniederlage 2017 erlebt die Partei gerade ein Comeback.
DÜSSELDORF In der politischen Landschaft Nordrhein-Westfalens sind die Grünen die vielleicht unberechenbarste Partei. Bei der Landtagswahl 2017 stürzte die vorherige Regierungspartei ab und schaffte es mit 6,4 Prozent nur knapp ins Parlament. Aber danach gewann sie binnen weniger Monate schon wieder 6000 neue Mitglieder und ist seit vergangenem Sommer in sämtlichen Umfragen stabil zweitstärkste Kraft im Land. Die Geschichte der nordrhein-westfälischen Grünen, die in dieser Woche ihr 40-jähriges Bestehen feiern, war immer schon eine Achterbahnfahrt. Eine Chronik.
1979 Am 16. Dezember kommen einige Hundert Idealisten aus der damaligen Öko-, Friedens- und Frauenbewegung in Hersel bei Bonn zusammen. Unter ihnen der spätere Solarunternehmer Frank Asbeck, Petra Kelly, Gert Bastian und der spätere Landesbauminister Michael Vesper. Sie gründen den NRW-Landesverband der Grünen.
1980 Ihr erster Landtagswahlkampf scheitert. Mit 3,0 Prozent schaffen sie aber einen Achtungserfolg und sichern sich über die Wahlkampfkostenrückerstattung die finanziellen Mittel für den Aufbau einer professionellen Struktur.
1985 Der erste Smog-Alarm im Ruhrgebiet rückt die NRW-Grünen zwar stärker ins öffentliche Bewusstsein. Aber die SPD reagiert und reklamiert ökologische Themen mit dem Landtagswahlkampfslogan „Arbeit und Umwelt“für sich. Mit Erfolg: Die SPD bekommt die absolute Mehrheit, die Grünen schaffen es nicht in den Landtag.
1986 Mit der Tschernobyl-Katastrophe rückt die eng mit den Grünen verbundene Anti-Atomkraftbewegung
weiter in die gesellschaftliche Mitte. Die Energiewende wird Massenthema.
1990 Mit 5,05 Prozent ziehen die Grünen erstmals in den Düsseldorfer Landtag ein. Mit 433 Gesetzentwürfen und Anträgen stemmen die zwölf grünen Abgeordneten dort mehr Initiativen als die SPD mit 122 und die CDU mit 89 Abgeordneten.
1995 Die SPD verliert ihre absolute Mehrheit und braucht die Grünen zur Stabilisierung ihrer Regierung. Damit beginnt für die Grünen eine lange Ära der Kompromisse. So tragen sie entgegen ihrer Überzeugung eine von der SPD gewollte, millionenschwere Förderung für den Dortmunder Flughafen mit.
1998 Der von der SPD angestoßene Ausbau des Braunkohletagebaus in NRW führt beinahe zum Koalitionsbruch mit den Grünen. Auf einem Sonderparteitag stimmen 60 Prozent der stimmberechtigten Grünen dann aber doch für die Fortsetzung der Koalition. Erst Jahre später setzen die Grünen eine Verkleinerung des Braunkohletagebaus durch. Im Gegenzug akzeptieren sie einen rechtlichen Rahmen, der 2019 beinahe zur Abholzung des Hambacher Forsts geführt hätte.
2005 Der wachsende Zwist in der rot-grünen Koalition vor allem bei industriepolitischen Themen schlägt sich im Wahlergebnis nieder. Bei der Landtagswahl wird Rot-Grün abgewählt, Jürgen Rüttgers (CDU) übernimmt die Regierung.
2010 Die neue rot-grüne Regierung unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) unterscheidet sich von den vorherigen rot-grünen Bündnissen in NRW. „Unter Kraft haben die Grünen erstmals als wirkliche Partner und nicht nur als Anhängsel mitregiert“, sagt der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann.
2013 Der grüne Umweltminister Johannes Remmel boxt das erste deutsche Klimaschutzgesetz durch den Landtag. CDU und FDP protestieren massiv, identifizieren sich wenige Jahre später aber mit den dort festgeschriebenen Zielen. Wenig später wird in NRW erstmals in der bundesdeutschen Geschichte ein bereits genehmigter Tagebau verkleinert. Derweil gerät die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann zunehemend unter Druck, weil sie aus Sicht vieler Bürger das „Turbo-Abitur“nicht schnell genug rückabwickelt und die Schulen mit überzogenen Inklusionsvorgaben überfordert.
2017 Das rot-grüne Bündnis wird abgewählt, Armin Laschet (CDU) wird Ministerpräsident. Die Grünen-Fraktion im Landtag schrumpft wegen ihres Wahlergebnisses von 6,4 Prozent von 29 auf 14 Köpfe.
2019 Bei der Europawahl behaupten die Grünen sich als zweitstärkste Kraft in NRW. In den drei größten Städten des Landes – Köln, Düsseldorf und Dortmund – werden sie sogar stärkste Kraft. Politikwissenschaftler von Alemann sagt: „Paradoxerweise ist ausgerechnet aus der einstigen Protestpartei heute eine echte, vielleicht die einzig verbliebene Volkspartei geworden.“Gegenwärtig hätten die Grünen mehr realistische Bündnisoptionen als jede andere Partei. Dass in Zeiten des spürbar gewordenen Klimawandels inzwischen fast jede Partei auch grün sein will, schadet den Grünen aus von Alemanns Sicht nicht: „Die Grünen haben damit angefangen, und der Wähler kann das Original sehr wohl von der Kopie unterscheiden“, meint der Politikwissenschaftler.