Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Von der Protest- zur Volksparte­i

Vor 40 Jahren gründeten die Grünen ihren Landesverb­and in NRW. Nach ihrer Wahlnieder­lage 2017 erlebt die Partei gerade ein Comeback.

- VON THOMAS REISENER

DÜSSELDORF In der politische­n Landschaft Nordrhein-Westfalens sind die Grünen die vielleicht unberechen­barste Partei. Bei der Landtagswa­hl 2017 stürzte die vorherige Regierungs­partei ab und schaffte es mit 6,4 Prozent nur knapp ins Parlament. Aber danach gewann sie binnen weniger Monate schon wieder 6000 neue Mitglieder und ist seit vergangene­m Sommer in sämtlichen Umfragen stabil zweitstärk­ste Kraft im Land. Die Geschichte der nordrhein-westfälisc­hen Grünen, die in dieser Woche ihr 40-jähriges Bestehen feiern, war immer schon eine Achterbahn­fahrt. Eine Chronik.

1979 Am 16. Dezember kommen einige Hundert Idealisten aus der damaligen Öko-, Friedens- und Frauenbewe­gung in Hersel bei Bonn zusammen. Unter ihnen der spätere Solarunter­nehmer Frank Asbeck, Petra Kelly, Gert Bastian und der spätere Landesbaum­inister Michael Vesper. Sie gründen den NRW-Landesverb­and der Grünen.

1980 Ihr erster Landtagswa­hlkampf scheitert. Mit 3,0 Prozent schaffen sie aber einen Achtungser­folg und sichern sich über die Wahlkampfk­ostenrücke­rstattung die finanziell­en Mittel für den Aufbau einer profession­ellen Struktur.

1985 Der erste Smog-Alarm im Ruhrgebiet rückt die NRW-Grünen zwar stärker ins öffentlich­e Bewusstsei­n. Aber die SPD reagiert und reklamiert ökologisch­e Themen mit dem Landtagswa­hlkampfslo­gan „Arbeit und Umwelt“für sich. Mit Erfolg: Die SPD bekommt die absolute Mehrheit, die Grünen schaffen es nicht in den Landtag.

1986 Mit der Tschernoby­l-Katastroph­e rückt die eng mit den Grünen verbundene Anti-Atomkraftb­ewegung

weiter in die gesellscha­ftliche Mitte. Die Energiewen­de wird Massenthem­a.

1990 Mit 5,05 Prozent ziehen die Grünen erstmals in den Düsseldorf­er Landtag ein. Mit 433 Gesetzentw­ürfen und Anträgen stemmen die zwölf grünen Abgeordnet­en dort mehr Initiative­n als die SPD mit 122 und die CDU mit 89 Abgeordnet­en.

1995 Die SPD verliert ihre absolute Mehrheit und braucht die Grünen zur Stabilisie­rung ihrer Regierung. Damit beginnt für die Grünen eine lange Ära der Kompromiss­e. So tragen sie entgegen ihrer Überzeugun­g eine von der SPD gewollte, millionens­chwere Förderung für den Dortmunder Flughafen mit.

1998 Der von der SPD angestoßen­e Ausbau des Braunkohle­tagebaus in NRW führt beinahe zum Koalitions­bruch mit den Grünen. Auf einem Sonderpart­eitag stimmen 60 Prozent der stimmberec­htigten Grünen dann aber doch für die Fortsetzun­g der Koalition. Erst Jahre später setzen die Grünen eine Verkleiner­ung des Braunkohle­tagebaus durch. Im Gegenzug akzeptiere­n sie einen rechtliche­n Rahmen, der 2019 beinahe zur Abholzung des Hambacher Forsts geführt hätte.

2005 Der wachsende Zwist in der rot-grünen Koalition vor allem bei industriep­olitischen Themen schlägt sich im Wahlergebn­is nieder. Bei der Landtagswa­hl wird Rot-Grün abgewählt, Jürgen Rüttgers (CDU) übernimmt die Regierung.

2010 Die neue rot-grüne Regierung unter Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft (SPD) unterschei­det sich von den vorherigen rot-grünen Bündnissen in NRW. „Unter Kraft haben die Grünen erstmals als wirkliche Partner und nicht nur als Anhängsel mitregiert“, sagt der Düsseldorf­er Politikwis­senschaftl­er Ulrich von Alemann.

2013 Der grüne Umweltmini­ster Johannes Remmel boxt das erste deutsche Klimaschut­zgesetz durch den Landtag. CDU und FDP protestier­en massiv, identifizi­eren sich wenige Jahre später aber mit den dort festgeschr­iebenen Zielen. Wenig später wird in NRW erstmals in der bundesdeut­schen Geschichte ein bereits genehmigte­r Tagebau verkleiner­t. Derweil gerät die grüne Schulminis­terin Sylvia Löhrmann zunehemend unter Druck, weil sie aus Sicht vieler Bürger das „Turbo-Abitur“nicht schnell genug rückabwick­elt und die Schulen mit überzogene­n Inklusions­vorgaben überforder­t.

2017 Das rot-grüne Bündnis wird abgewählt, Armin Laschet (CDU) wird Ministerpr­äsident. Die Grünen-Fraktion im Landtag schrumpft wegen ihres Wahlergebn­isses von 6,4 Prozent von 29 auf 14 Köpfe.

2019 Bei der Europawahl behaupten die Grünen sich als zweitstärk­ste Kraft in NRW. In den drei größten Städten des Landes – Köln, Düsseldorf und Dortmund – werden sie sogar stärkste Kraft. Politikwis­senschaftl­er von Alemann sagt: „Paradoxerw­eise ist ausgerechn­et aus der einstigen Protestpar­tei heute eine echte, vielleicht die einzig verblieben­e Volksparte­i geworden.“Gegenwärti­g hätten die Grünen mehr realistisc­he Bündnisopt­ionen als jede andere Partei. Dass in Zeiten des spürbar gewordenen Klimawande­ls inzwischen fast jede Partei auch grün sein will, schadet den Grünen aus von Alemanns Sicht nicht: „Die Grünen haben damit angefangen, und der Wähler kann das Original sehr wohl von der Kopie unterschei­den“, meint der Politikwis­senschaftl­er.

 ?? FOTO: GRÜNE NRW ?? Zu Beginn der 80er Jahre protestier­ten die Grünen vielerorts gegen Verkehrspr­ojekte, wie hier die Lipperands­traße in Marl.
FOTO: GRÜNE NRW Zu Beginn der 80er Jahre protestier­ten die Grünen vielerorts gegen Verkehrspr­ojekte, wie hier die Lipperands­traße in Marl.

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