Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Seele zu Weihnachten
Bei manchen Menschen funktioniert die Vorfreude auf das Fest der Liebe gar nicht. Nicht selten sind Beziehungsstörungen der Grund.
Unser Leser Jörg O. aus Viersen fragt: „Bald wird Weihnachten sein. Warum fühlen sich viele Menschen eher bedrückt als optimistisch? Müsste uns die Aussicht auf das Fest der Liebe nicht positiv stimmen?“Jürgen Vieten Wir Psychiater erleben regelmäßig, wie schwer sich viele mit der Liebe tun. Zunächst wird allen wieder schwerer ums Herz, die vor kurzem einen Liebesten verloren haben. Unweigerlich kommen die Erinnerungen hoch und durchdringen manche Stunden, manche Nächte. Dies ist normal und Teil des Trauerprozesses.
Viele geraten aber in völlig andere Gefühle wie Wut, Trotz, Trauer ohne konkreten Verlust, Angst, Einsamkeit, Widerstand oder Ablehnung. Dies übertragen sie dann als Projektion auf das Weihnachtsfest und auf ihre Familien. Hier bilden meist Beziehungsstörungen der Hintergrund; der Mensch erinnert sich unbewusst an seine Erfahrungen mit der ersten Liebe, die zu seinen Eltern und zur Familie. Dort wurde er entweder nicht richtig geliebt (Ambivalenz, Bindungsunsicherheit) oder sogar abgelehnt (negative Bindung) und handelt in der Gegenwart danach. Bleibt ihm dies unbewusst, kann daraus eine lebenslange Unsicherheit und die ewig unbewusste Frage an seine Umwelt: „Bin ich liebenswert?“oder „Was ist falsch an mir, dass mich niemand liebt?“resultieren. Dies kann zur festen Überzeugung führen, nicht liebenswert zu sein, oder gar zum Hass auf alle und alles, wo Liebe spürbar wird – eben auch auf die Weihnachtszeit.
An diesen Fehlentwicklungen tragen zwar immer die Eltern Schuld, zumindest bis zur Pubertät. Wird uns aber nicht das Glück einer langen liebevollen Paarbeziehung zuteil, dann erkennen wir die Zusammenhänge in unserer Seele erst im Laufe einer längeren tiefenpsychologischen Psychotherapie. Jahr für Jahr gelingt es uns dann besser, die Ambivalenz oder Ablehnung der Eltern hinter uns zu lassen und Weihnachten als Fest unserer eigenen Liebe zu anderen zu genießen.
Leiden statt lieben heißt es oft auch für Menschen in einer Depression. Alles erschöpft sie schnell, auch familiär, die Gefühle sind oft auf Eis, Anstrengungen kaum möglich und sogar schädlich. Praktisch alles erscheint einem negativ, am
In diesen Tagen wird auch Einsamkeit stärker spürbar
liebsten zieht man sich zurück. Hier wird zur Weihnachtszeit die Einsamkeit stärker spürbar – zum einen, da kaum jemand einen verstehen kann, zum anderen verstärken sich Einsamkeitsgefühle aus der Kindheit. Daher haben die Kranken dann häufiger „Freitodgedanken“. Der Arzt ist gefordert, klar und unmissverständlich die Zusammenhänge aufzudecken und notwendige Hoffnung zu vermitteln.
Auch Alkoholkranke fürchten Weihnachten und Silvester. Alkohol gehört fast überall dazu. Dies bedeutet für den, der den Willen hat, nichts mehr zu trinken, erhöhte Anstrengungen, der Versuchung zu widerstehen, vor allem wenn auch noch gleichzeitig jene „schlechten“Gefühle hinzutreten. Und man will ja auch nicht den anderen „die Stimmung vermiesen“. Jeder Arzt weiß, dass die Rückfallgefahr jetzt besonders hoch ist. Zusammen mit seinem Arzt kann er sich aber schützen.
„Die Seele brennt“– das ist zu Weihnachten keinem zu wünschen, es sei denn, er ist Fan von Borussia Mönchengladbach und singt die Zeile in deren Hymne.