Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Geschichte der Bienen
Ein Schluchzen entfuhr mir, ich starrte angestrengt in die Luft, während ich mit den Tränen kämpfte. Wir blieben sitzen, die Zeit verging, die Natur umgab uns mit all ihren Lauten, dem Vogelgesang, dem Windesrauschen, dem Quaken eines Froschs. Und den Bienen. Ihr gedämpftes Summen beruhigte mich.
Vorsichtig befreite Charlotte ihre Hand aus meiner und nickte schwach.
»Du sollst sie nicht länger sehen müssen.«
Sie stand auf, nahm die Zeichnungen mit, trug sie mit beiden Händen, als wären sie noch immer wertvoll, und ging auf das Haus zu.
Ich musste tief seufzen, aus Dankbarkeit und Erleichterung, aber auch aus der Gewissheit heraus, dass es jetzt vorbei war.
Ich blieb sitzen und betrachtete die Bienen, ihre Ausdauer, ihr ewiges Hin und Her, sie befanden sich niemals im Stillstand.
Nicht, ehe ihre Flügel rissen.
George
Ich lag wieder wach. Dabei hätte einem guten Schlaf nichts im Wege gestanden. Das Zimmer war angenehm kühl, und es war still. Und dunkel. Wie dunkel es zurzeit wurde, viel dunkler als vorher. Dann fiel mir die Lampe wieder ein. Das war der Grund, ich hatte es nie geschafft, sie zu reparieren. Die Leitungen hingen immer noch aus der Wand wie kriechende Würmer mit Köpfen aus Isolierband. Ich kam jeden Tag an ihnen vorbei, nahm sie wahr und bekam schlechte Laune davon. Eines von vielen Dingen, die ich nie in Angriff nahm. Es war nicht wichtig, das wusste ich ja. Ich brauchte dieses Licht nicht, keiner von uns. Emma drängte mich auch nicht dazu, ich glaube, sie dachte nicht einmal darüber nach. Aber diese kriechenden Leitungen waren ein Teil all dessen, was nicht so war, wie es sein sollte, all dessen, was nicht intakt war.
Ich brauchte sieben Stunden Schlaf. Mindestens. Meine Bewunderung hatte schon immer denjenigen gegolten, die mit wenig Schlaf auskommen. Die nach fünf Stunden aufwachen und parat sind, gleich die volle Leistung bringen. Sie sind es, die im Leben wirklich weit kommen, das hatte ich zumindest gehört.
Ich drehte mich zu meinem Wecker. 0:32 Uhr. Schon seit 23:08 Uhr lag ich hier. Emma war sofort eingeschlafen, und auch ich war ab und zu eingedöst. Doch dann war ich sofort wieder hochgeschreckt, mit klarem Kopf, hellwach. Und mein Körper arbeitete, lag niemals still, wollte nicht auf der Matratze zur Ruhe kommen. Wie ich mich auch drehte und wendete, jede Lage war unbequem.
Ich musste schlafen. Wenn ich jetzt nicht schlief, würde ich morgen nichts leisten können. Vielleicht würde ein Drink helfen.
Schnaps hatten wir nicht da, wir tranken ihn nur selten. Aber ein Bier fand ich im Kühlschrank, und ein Glas im Küchenschrank. Fehlte nur noch der Flaschenöffner. Er hing nicht an seinem festen Platz an der Wand, einem Haken über der Spüle, dem vierten Haken von rechts, zwischen der Schere und der Bratpfanne. Wo war er? Ich öffnete die Besteckschublade. Fand den Korkenzieher und ein paar poröse alte Gummibänder ganz hinten in einem eigenen Fach. Aber der Flaschenöffner war nicht da. Ich öffnete noch eine Schublade. Nichts.
Hatte sie das System geändert? Alles umsortiert? Es wäre nicht das erste Mal.
Ich suchte weiter, Schublade für Schublade. Das Bier musste ich abstellen, denn ich brauchte beide Hände, und ich gab mir keine Mühe, leise zu sein. Wenn sie unbedingt alles umräumen wollte, musste sie das eben ertragen. Es war zum Verrücktwerden, wie viele Schubladen es in dieser Küche gab, und wie viel Quatsch sie enthielten. Sogenannte nützliche Küchenhelfer, die Staub ansetzten. Eierkocher, eine elektrische Pfeffermühle, ein Utensil, das eigens dafür entwickelt worden war, einen Apfel in sechs Teile zu schneiden. All das hatte sich ein halbes Leben lang angesammelt. Das meiste davon war auf Emmas Mist gewachsen. Ich hätte am liebsten eine Tüte genommen und alles hineingeworfen. Aufgeräumt.
Doch dann tauchte er auf. Er lag in der großen Schublade mit den Kochlöffeln, Schöpfkellen und Schneebesen. Ganz hinten. Ganz unten. Anscheinend hatte er tatsächlich einen neuen Platz. Schnell öffnete ich das Bier. Ich hatte Lust, zu ihr zu gehen, sie zu wecken und ihr zu sagen, dass sie es gefälligst lassen sollte, immer alles zu ändern. Stattdessen trank ich einen großen Schluck Bier. Er rann mir kühl die Kehle hinunter.
Mein Magen knurrte, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, etwas zu essen zu suchen. Nichts sprach mich an. Und Bier hatte ja auch Nährstoffe. Ich war kein bisschen müde, nur unruhig. Tigerte hin und her, lief in die Küche und griff nach der Fernbedienung. Doch dann hielt ich inne, denn plötzlich sah ich etwas an der Wand im Esszimmer.
Ich ging hinein und blieb davor stehen. Die Zeichnungen. William
Savages Standardbeute. Die strenggenommen für niemand anders als die Savage-Familie selbst je zum Standard geworden war. Nun hing sie hier an einer Wand, auf die niemals die Sonne fiel. In dicken Goldrahmen, glänzend, ohne ein einziges Staubkörnchen, dafür sorgte Emma. Schwarze Tusche auf vergilbtem Papier. Zahlen. Maße. Einfache Beschreibungen. Mehr nicht. Doch dahinter verbarg sich eine Geschichte, die meine Familie gehütet hatte, seit die Zeichnungen im Jahr 1852 angefertigt worden waren. Die Standardbeute sollte William Savages großer Triumph werden, mit ihr wollte er in die Geschichtsbücher eingehen. Doch er hatte nicht mit der schnellen Konkurrenz aus Amerika gerechnet, einem gewissen Lorenzo Langstroth. Er gewann, indem er jene Maße entwickelte, die später zum Standard wurden. Und Savages Leistung beachtete niemand. Er war schlicht und ergreifend zu langsam gewesen. Vielleicht nicht verwunderlich zu einer Zeit, als sie auf ihrem jeweiligen Kontinent saßen und an dem gleichen Projekt arbeiteten, ohne sich über Telefon, Fax oder E-Mail verständigen zu können.
Hinter jedem großen Erfinder stehen mindestens ein Dutzend Enttäuschte, die zu spät dran waren. Savage war einer von ihnen. So brachte er sich und seiner Familie weder Reichtum noch Ehre ein.
Glücklicherweise gelang es seiner Frau, die meisten Töchter zu verheiraten. Um Edmund, den Sohn, stand es dagegen umso schlimmer.
(Fortsetzung folgt)