Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Etapler wehren sich gegen die Rentenreform
Seit Anfang Dezember demonstrieren die Franzosen gegen den Präsidenten, der einen späteren Eintritt ins Rentenalter will. Das ist auch in Hückeswagens Partnerstadt und Umgebung zu spüren.
ETAPLES Es gibt noch einen Ruhestand vor der Arthritis – auf Französisch: „La retraite avant l’arthrite“: So lautete der Spruch auf einem der Transparente, die Anfang Dezember bei den Demonstrationen im Norden Frankreichs getragen wurden. Mit diesen und ähnlichen Parolen kämpfen zurzeit Tausende von Arbeitnehmern gegen die große Rentenreform von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Auch in Etaples und Umgebung.
Ein Generalstreik legte am 5. Dezember und an den folgenden Tagen landesweit den Schienenverkehr und das öffentliche Leben weitgehend lahm. Die Gewerkschaften als Organisatoren hatten für diesen „Schwarzen Donnerstag“mit noch mehr Teilnehmern gerechnet als bei ihrer letzten großen Aktion 2016 gegen die Revision des Arbeitsrechts und die Liberalisierung der Tarifverträge. Am ersten Streiktag wurden jedoch in den großen Städten des Nordens – in Lille, Dünkirchen, Calais, Boulogne-sur-Mer – weniger Demonstranten gezählt als damals, etwa an die 27.000. Am Wochenende darauf gingen dann noch einmal deutlich weniger Menschen auf die Straße.
Die Protestbewegung gegen die Rentenreform erreichte vor allem nicht jene chaotischen Ausmaße wie bei den Daueraktionen der Gelbwesten oder den landesweiten Schülerstreiks. Viele im Land haben längst begriffen, dass in Sachen Alterssicherung etwas getan werden muss, das aber müsse gerecht und ausgewogen zugehen. Der Präsident will mit seinem Wahlversprechen, der Einführung einer Rentenreform, nichts weniger als das notorisch schlechte und verwirrend vielfältige Alterssicherungssystem mit seinen mehr als 40 berufsbezogenen Sonderkassen vereinheitlichen. Stattdessen soll – wie in weiten Teilen der EU längst üblich – mithilfe eines Punktesystems jeder eingezahlte Euro für die spätere Rente angerechnet werden.
Die Reformpläne treffen auf Widerstand – und zwar unterschiedlich je nach Berufsgruppe. Tatsächlich sehen viele Franzosen ihre Besitzstände im Alter gefährdet, obwohl es den Rentnern im Nachbarland so schlecht nicht geht. Ein berühmtes Beispiel für Privilegien bietet die Versorgung bei der staatlichen Eisenbahn SNCF: Deren Angestellte
können bereits mit etwas über 50 Jahren ein Ruhegeld beanspruchen. Dagegen sehen die Perspektiven etwa für Lehrkräfte kärglich aus: Sie verdienen wenig, hofften als Ausgleich aber auf gut ausgestattete Pensionsbezüge. Die sehen sie jetzt gefährdet und wehren sich entsprechend.
Macrons Reformen wollen einen schmerzhaften Ausgleich erzwingen – die einen müssen auf einen Teil ihrer recht üppigen Altersversorgung verzichten, andere womöglich länger arbeiten, um sich einen angemessenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Da stellt sich halt schnell die Frage auf dem Transparent: Gibt es noch ein Rentnerleben vor der Arthritis? Die mächtigen Eisenbahner sitzen in dieser Auseinandersetzung wortwörtlich am längeren Hebel – legen sie den um, geht auf Frankreichs Schienen nichts mehr. Wird der Präsident nachgeben? Es rächt sich, dass Macron mit einem Kraftakt das neue System durchsetzen will, statt vorher mit den Tarifpartnern Einzelheiten der Reformen ausgehandelt zu haben
In einem Land, das seinen Dialog mit den Regierenden traditionell in Form von Streiks und Straßendemonstrationen führt, erscheint die
Gelassenheit im Lande der Scht’is bemerkenswert. Bis jetzt wenigstens – viele Menschen an der Côte d’Opale, an der Etaples liegt, nahmen Kurzurlaub, besorgten anstehende Weihnachtseinkäufe oder funktionierten ihre Wohnung zum Homeoffice um. Wer konnte, fuhr statt mit dem Zug im Auto von Kollegen zum Arbeitsplatz. Nicht wenige trainierten ihren Körper mit Dauermärschen, E-Roller- oder Fahrradfahren. Es bleibt offen, wem in dieser Lage die Puste ausgehen wird: den Politikern in Paris oder Hückeswagens Freunden in Etaples und Umgebung.