Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Wirtschaft für das Gemeinwohl
Der neue SPD-Vorsitzende will auch Privatunternehmer und vermögende Bürger in die Wirtschaftspolitik seiner Partei einbeziehen, um das Land voranzubringen.
Große Aufregung! Die SPD rückt nach links. Das ZDF-Politbarometer hat schon nach wenigen Tagen Gewissheit: Das schade ihr eher. Und die FDP sieht sich schon als Arbeiterpartei. Das könnte ihr so passen. Den Durchschnittsverdienern zu erzählen, mit dem Schlagwort einer „Politik für die Mitte“seien Menschen mit 4000 Euro brutto im Monat gemeint. Die Forderungen der FDP zielen aber in Wahrheit auf weitere finanzielle Vorteile für Einkommensbezieher, deren Jahresverdienst pro Haushalt in die Hunderttausende geht. Die große Mehrheit der Menschen vor den Karren einer kleinen Minderheit zu spannen, das ist keine Politik für die Mitte. Das ist Verhohnepiepelung der großen Mehrheit. Wir wollen eine Politik für die Vielen, nicht für die Wenigen.
Wenn es links ist, dass Menschen, die sich in der Pflege, als Paketbote oder als Erzieherin Tag für Tag abrackern, so bezahlt werden, dass sie davon leben und ihre Miete bezahlen können und dass sie einen Rentenanspruch erwerben, der ein Alter in Würde ermöglicht, dann bin ich links. Wenn es links ist, dafür zu kämpfen, dass junge Menschen nicht von Jahr zu Jahr befristet eingestellt werden und trotz harter Arbeit keine Sicherheit haben, eine Lebensplanung aufzubauen, dann bin ich links. Wenn es links ist, dafür zu sorgen, dass sich die Vermögendsten nicht vor dem Finanzamt drücken können, dann bin ich links. Wenn es links ist zu fordern, dass ein so reiches Land wie Deutschland endlich dafür sorgt, dass unsere Schulen und Straßen nicht weiter verrotten und in vielen Teilen des Landes Mobilfunkverbindungen wie in einem Entwicklungsland funktionieren, dann bin ich links.
Sieht das die Mehrheit wirklich anders? Im erwähnten Politbarometer klingt das nicht so: 75 Prozent wollen, dass der Staat in die Infrastruktur investiert, auch wenn dafür Kredite aufgenommen werden müssen. Die Leute wissen, dass wir seit Jahren mit einer maroden Infrastruktur Schulden ganz anderer Art auf die nächste Generation schieben. Auch Arbeitgeberverbände und ihnen nahestehende Wirtschaftsforscher fordern, erst recht in Zeiten negativer Zinsen endlich Geld in die Hand zu nehmen, um Deutschlands Zukunft als hochzivilisiertes Industrieland auch für unsere Nachfahren zu sichern. Laut ARD-Deutschlandtrend wollen 72 Prozent der Befragten einen höheren Beitrag großer Vermögen zu unserem Gemeinwesen. 72 Prozent – das sind beileibe nicht nur neidische Habenichtse. Darunter sind viele Vermögende, die mir schreiben, dass unser Land nicht weiter auseinanderdriften darf. Dass Infrastruktur, Bildung und Zusammenhalt wichtige Voraussetzungen dafür sind, den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt in Gang zu halten und Wohlstand und sozialen Frieden zu erhalten.
Sind diese Unternehmer links? Oder sind sie sich einfach der Tatsache bewusst, dass nachhaltiger Wohlstand und unternehmerischer Erfolg voraussetzen, das Ganze im Blick zu behalten? Mein Lehrmeister Johannes Rau hat davon gesprochen, dass die SPD die Partei für die sein muss, die Solidarität brauchen – und für die, die Solidarität zu geben bereit sind. Solidarisch mit anderen zu sein, ohne direkt selbst auf den Sozialstaat angewiesen zu sein, ist keine reine Selbstlosigkeit. Wir alle leben am ruhigsten und sichersten, wenn wir dafür sorgen, dass sich Menschen nicht abgehängt und ausgegrenzt fühlen. Eine stabile Gesellschaft nutzt allen.
Verantwortungsbewusste Unternehmerinnen und Unternehmer wissen das. Unser Land hat überaus viele davon, die danach handeln und wichtige Impulse für eine wirklich fortschrittliche Politik geben. Leider fallen ihr tägliches, verantwortungsbewusstes Handeln und die Parolen so mancher Lobbyisten inklusive ihrer selbsternannten politischen Repräsentanten oft weit auseinander. Sie verschweigen, dass Unternehmer in Gesprächen vor allem bessere Bildung, bessere Verkehrswege, einfachere Verwaltungsabläufe und Unterstützung bei der Aktivierung aller Talente unabhängig vom sozialen Status der Eltern fordern. Sie wissen, dass das Geld kostet – und sie sagen, dass das Geld so besser investiert ist als in Form von Steuersenkung für die Vermögendsten.
Ich habe nach meiner Wahl zu einem der SPD-Vorsitzenden auch aus der Wirtschaft viel Zuspruch erhalten. Aus dem Brief eines Firmeninhabers mit 4000 Beschäftigten aus 35 Staaten will ich gern zitieren: „60 bis 70 Stunden in der Woche arbeite ich mit Menschen, die zum Beispiel aus Afghanistan flüchteten und kein Deutsch sprechen oder aus gutbürgerlichen Häusern kommen und promoviert haben. Bringen wir Innovationen auf den Weg. Treiben wir verstärkt Klimaprojekte voran. Versuchen wir, das Wohl unserer Menschen über den Erfolg unserer Kunden in über 60 Ländern der Erde zusammenzubringen. Mein Credo bleibt seit über 25 Jahren ungehört: Steuern für unsere Menschen runter. Meine Steuern rauf!“
Ich weiß nicht, ob dieser Inhaber sich für links hält. Er hätte allen Grund dazu. Ich weiß aber, dass wir viel mehr Unternehmerpersönlichkeiten dieses Schlags in kleinen, mittleren und großen Unternehmen brauchen. So gesehen ist die SPD nicht die Partei für die Wirtschaft, sondern mit der Wirtschaft. Sie muss die Partei bleiben, die unser Land mit verantwortungsvoll agierenden Unternehmerinnen und Unternehmern und den vielen voranbringt, die ihre Arbeitskraft und ihren Ideenreichtum für den Erfolg ihrer Unternehmen und damit für die Gesellschaft einbringen. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der Voraussetzungen für den Erfolg jeder und jedes Einzelnen bietet. Dazu gehören Bildung, Infrastruktur, Sicherheit und Zusammenhalt. Nicht gegen private Initiative, sondern zusammen mit ihr – ausgerichtet auf etwas ganz altmodisch Klingendes, das aktueller denn je ist: das Gemeinwohl.