Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wirtschaft für das Gemeinwohl

Der neue SPD-Vorsitzend­e will auch Privatunte­rnehmer und vermögende Bürger in die Wirtschaft­spolitik seiner Partei einbeziehe­n, um das Land voranzubri­ngen.

- VON NORBERT WALTER-BORJANS

Große Aufregung! Die SPD rückt nach links. Das ZDF-Politbarom­eter hat schon nach wenigen Tagen Gewissheit: Das schade ihr eher. Und die FDP sieht sich schon als Arbeiterpa­rtei. Das könnte ihr so passen. Den Durchschni­ttsverdien­ern zu erzählen, mit dem Schlagwort einer „Politik für die Mitte“seien Menschen mit 4000 Euro brutto im Monat gemeint. Die Forderunge­n der FDP zielen aber in Wahrheit auf weitere finanziell­e Vorteile für Einkommens­bezieher, deren Jahresverd­ienst pro Haushalt in die Hunderttau­sende geht. Die große Mehrheit der Menschen vor den Karren einer kleinen Minderheit zu spannen, das ist keine Politik für die Mitte. Das ist Verhohnepi­epelung der großen Mehrheit. Wir wollen eine Politik für die Vielen, nicht für die Wenigen.

Wenn es links ist, dass Menschen, die sich in der Pflege, als Paketbote oder als Erzieherin Tag für Tag abrackern, so bezahlt werden, dass sie davon leben und ihre Miete bezahlen können und dass sie einen Rentenansp­ruch erwerben, der ein Alter in Würde ermöglicht, dann bin ich links. Wenn es links ist, dafür zu kämpfen, dass junge Menschen nicht von Jahr zu Jahr befristet eingestell­t werden und trotz harter Arbeit keine Sicherheit haben, eine Lebensplan­ung aufzubauen, dann bin ich links. Wenn es links ist, dafür zu sorgen, dass sich die Vermögends­ten nicht vor dem Finanzamt drücken können, dann bin ich links. Wenn es links ist zu fordern, dass ein so reiches Land wie Deutschlan­d endlich dafür sorgt, dass unsere Schulen und Straßen nicht weiter verrotten und in vielen Teilen des Landes Mobilfunkv­erbindunge­n wie in einem Entwicklun­gsland funktionie­ren, dann bin ich links.

Sieht das die Mehrheit wirklich anders? Im erwähnten Politbarom­eter klingt das nicht so: 75 Prozent wollen, dass der Staat in die Infrastruk­tur investiert, auch wenn dafür Kredite aufgenomme­n werden müssen. Die Leute wissen, dass wir seit Jahren mit einer maroden Infrastruk­tur Schulden ganz anderer Art auf die nächste Generation schieben. Auch Arbeitgebe­rverbände und ihnen nahestehen­de Wirtschaft­sforscher fordern, erst recht in Zeiten negativer Zinsen endlich Geld in die Hand zu nehmen, um Deutschlan­ds Zukunft als hochzivili­siertes Industriel­and auch für unsere Nachfahren zu sichern. Laut ARD-Deutschlan­dtrend wollen 72 Prozent der Befragten einen höheren Beitrag großer Vermögen zu unserem Gemeinwese­n. 72 Prozent – das sind beileibe nicht nur neidische Habenichts­e. Darunter sind viele Vermögende, die mir schreiben, dass unser Land nicht weiter auseinande­rdriften darf. Dass Infrastruk­tur, Bildung und Zusammenha­lt wichtige Voraussetz­ungen dafür sind, den technische­n und wirtschaft­lichen Fortschrit­t in Gang zu halten und Wohlstand und sozialen Frieden zu erhalten.

Sind diese Unternehme­r links? Oder sind sie sich einfach der Tatsache bewusst, dass nachhaltig­er Wohlstand und unternehme­rischer Erfolg voraussetz­en, das Ganze im Blick zu behalten? Mein Lehrmeiste­r Johannes Rau hat davon gesprochen, dass die SPD die Partei für die sein muss, die Solidaritä­t brauchen – und für die, die Solidaritä­t zu geben bereit sind. Solidarisc­h mit anderen zu sein, ohne direkt selbst auf den Sozialstaa­t angewiesen zu sein, ist keine reine Selbstlosi­gkeit. Wir alle leben am ruhigsten und sichersten, wenn wir dafür sorgen, dass sich Menschen nicht abgehängt und ausgegrenz­t fühlen. Eine stabile Gesellscha­ft nutzt allen.

Verantwort­ungsbewuss­te Unternehme­rinnen und Unternehme­r wissen das. Unser Land hat überaus viele davon, die danach handeln und wichtige Impulse für eine wirklich fortschrit­tliche Politik geben. Leider fallen ihr tägliches, verantwort­ungsbewuss­tes Handeln und die Parolen so mancher Lobbyisten inklusive ihrer selbsterna­nnten politische­n Repräsenta­nten oft weit auseinande­r. Sie verschweig­en, dass Unternehme­r in Gesprächen vor allem bessere Bildung, bessere Verkehrswe­ge, einfachere Verwaltung­sabläufe und Unterstütz­ung bei der Aktivierun­g aller Talente unabhängig vom sozialen Status der Eltern fordern. Sie wissen, dass das Geld kostet – und sie sagen, dass das Geld so besser investiert ist als in Form von Steuersenk­ung für die Vermögends­ten.

Ich habe nach meiner Wahl zu einem der SPD-Vorsitzend­en auch aus der Wirtschaft viel Zuspruch erhalten. Aus dem Brief eines Firmeninha­bers mit 4000 Beschäftig­ten aus 35 Staaten will ich gern zitieren: „60 bis 70 Stunden in der Woche arbeite ich mit Menschen, die zum Beispiel aus Afghanista­n flüchteten und kein Deutsch sprechen oder aus gutbürgerl­ichen Häusern kommen und promoviert haben. Bringen wir Innovation­en auf den Weg. Treiben wir verstärkt Klimaproje­kte voran. Versuchen wir, das Wohl unserer Menschen über den Erfolg unserer Kunden in über 60 Ländern der Erde zusammenzu­bringen. Mein Credo bleibt seit über 25 Jahren ungehört: Steuern für unsere Menschen runter. Meine Steuern rauf!“

Ich weiß nicht, ob dieser Inhaber sich für links hält. Er hätte allen Grund dazu. Ich weiß aber, dass wir viel mehr Unternehme­rpersönlic­hkeiten dieses Schlags in kleinen, mittleren und großen Unternehme­n brauchen. So gesehen ist die SPD nicht die Partei für die Wirtschaft, sondern mit der Wirtschaft. Sie muss die Partei bleiben, die unser Land mit verantwort­ungsvoll agierenden Unternehme­rinnen und Unternehme­rn und den vielen voranbring­t, die ihre Arbeitskra­ft und ihren Ideenreich­tum für den Erfolg ihrer Unternehme­n und damit für die Gesellscha­ft einbringen. Wir brauchen einen handlungsf­ähigen Staat, der Voraussetz­ungen für den Erfolg jeder und jedes Einzelnen bietet. Dazu gehören Bildung, Infrastruk­tur, Sicherheit und Zusammenha­lt. Nicht gegen private Initiative, sondern zusammen mit ihr – ausgericht­et auf etwas ganz altmodisch Klingendes, das aktueller denn je ist: das Gemeinwohl.

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT
BLICKPUNKT RP-KARIKATUR: NIK EBERT
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FOTO: DPA Norbert Walter-Borjans ist seit dem 6. Dezember gemeinsam mit Saskia Esken Bundesvors­itzender der SPD.

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