Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Sprache der Macht lernen
Deutschland muss sich endlich einer ungemütlichen geopolitischen Realität stellen – auch militärisch.
Ein Tauwetter, das ist in der Sprache der Diplomatie normalerweise etwas durch und durch Positives. Frostige Beziehungen erwärmen sich, es entsteht Raum für politisches Handeln. Doch wer in diesen Tagen mit Diplomaten oder außenpolitischen Experten spricht, der spürt, dass Tauwetter auch ungemütliche Nebeneffekte haben kann. Vor 30 Jahren ging der Kalte Krieg zu Ende, und das war gerade für uns Deutsche ein unfassbarer Glücksfall der Geschichte. Vielleicht fällt es uns auch deswegen so schwer, den negativen Begleiterscheinungen der historischen Wende klar ins Auge zu schauen.
Denn mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation begannen zuerst unmerklich und dann immer schneller auch die Fundamente der Nachkriegsordnung dahinzuschmelzen. Das gesamte Gefüge aus Verträgen und Institutionen, denen Deutschland seinen politischen und wirtschaftlichen Wiederaufstieg verdankt, steht heute zur Disposition: die Nato, die EU, die Weltwirtschaftsorganisation WTO, die großen Rüstungskontrollverträge der einstigen Supermächte. Die bisherige Ordnungsmacht USA zieht sich zurück und wird unter Präsident Donald Trump zu einem Unsicherheitsfaktor. Russland destabilisiert seine Nachbarländer und schwingt sich zur neuen Vormacht in Nahen Osten auf. China bastelt ökonomisch, politisch und neuerdings auch militärisch an seiner eigenen Weltordnung.
Kein anderes Land ist von dieser beunruhigenden Entwicklung so stark betroffen wie wir: Von den USA sind wir militärisch abhängig, wir hängen am russischen Gashahn, und ohne das brummende Geschäft mit China gingen hierzulande in vielen Fabriken ganz schnell die Lichter aus.
Wie sich Europa in dieser Welt neuer Großmacht-Rivalitäten behaupten kann, welche Rolle insbesondere Deutschland dabei spielen könnte, darüber müssten wir eigentlich engagiert debattieren. Doch davon kann keine Rede sein. Vielleicht liegt das daran, dass man dafür zunächst ein Wort in den Mund nehmen müsste, das in der deutschen Außenpolitik lange als mindestens grob ungehörig, wenn nicht gar als gefährlich eingestuft wurde: deutsche Interessen. Und zwar solche, die nicht an den Landesgrenzen haltmachen.
Denn die gibt es natürlich. So sind wir als eine der größten Volkswirtschaften der Welt und erfolgreiche Exportnation existenziell angewiesen auf freie Handelswege. Wir können nicht hinnehmen, dass etwa moderne Piraten die Meere unsicher machen. Folgerichtig beteiligt sich die Bundesmarine an einem EU-Einsatz gegen die Freibeuter am Horn von Afrika (Mission „Atalanta“). Was aber ist, wenn andere Staaten versuchen, Teile der offenen See zu ihrem Hoheitsgebiet umzudeklarieren, wie es etwa China weit vor seinen Küsten versucht? Soll Deutschland dann auch dort demonstrativ Präsenz zeigen, etwa mit einer Fregatte an einem Manöver der australischen Marine im Pazifik teilnehmen? Als Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) unlängst öffentlich über solche Missionen sinnierte, witterte man bei der SPD sogleich empört eine Neuauflage wilhelminischer Kanonenbootpolitik.
Das ist ein bisschen billig. Es geht natürlich nicht um Kolonien und um Eroberungsfeldzüge. Sehr wohl aber geht es um Geopolitik und um einen globalen Wettbewerb, der – ob es einem nun gefällt oder nicht
– auch eine militärische Komponente hat. Europa müsse die „Sprache der Macht“lernen, hat die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unlängst gefordert. Dabei geht es aber wohlgemerkt um alle Formen der Macht: politische, wirtschaftliche, technologische, militärische, kulturelle Macht. Dahinter steckt die Einsicht, dass Europa in der Weltpolitik klarer Kante zeigen muss, will es künftig noch eine Rolle spielen.
Diese Rolle anzunehmen, fällt nicht leicht, gerade in Deutschland. Wir finden immer schnell Ausreden, wenn es brenzlig wird. Natürlich verbieten uns die von Deutschen in Uniform begangenen Verbrechen jedes militärische Auftrumpfen. Aber unsere Nachbarn und Verbündeten sind schon seit Langem nur noch genervt, wenn in Berlin mal wieder die Angst vor den eigenen Dämonen beschworen wird, um es sich weiter in der Komfortzone der Weltpolitik bequem zu machen.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron musste unlängst im Hof des Pariser Invalidendoms vor 13 mit der Trikolore bedeckten Särgen Worte dafür finden, warum französische Soldaten, die bei einem Hubschrauberabsturz in Mali ums Leben gekommen waren, ihr Leben für eine sinnvolle Sache gegeben haben. In Mali kämpfen afrikanische und europäische Soldaten gemeinsam gegen islamistische Terroristen. Dass damit auch die Sicherheit der Menschen in Europa verteidigt wird, gilt als unbestritten. Auch die Bundeswehr ist mit fast 1000 Mann dort, überlässt das Kämpfen aber den französischen Kameraden. Dass das bei allem Verständnis für die deutschen Skrupel nicht sehr gut ankommt, kann man sich ausmalen.
Militärische Zurückhaltung sollte weiter ein Markenzeichen deutscher Politik bleiben. Aber dass wir, das größte und wirtschaftliche stärkste Land der EU, künftig weiter systematisch in der zweiten oder gar dritten Reihe stehen, wenn es um heikle Einsätze geht, das ist undenkbar. Das würde das ohnehin schon schwer erschütterte Vertrauen unserer Partner in die deutsche Verlässlichkeit weiter untergraben. Die
Deutschen moralisierten ausgiebig, legten die Latte stets hoch, nur um dann bequem darunter durchzumarschieren – das ist in etwa das Bild, das die deutsche Außenpolitik abgibt.
Als Macron unlängst in einem Interview die Nato als „hirntot“bezeichnete, war das eine bewusste Provokation, um gerade auch die Deutschen endlich zu einer Standortbestimmung zu zwingen. Wofür steht Deutschland eigentlich? Genauer noch: Ist Frankreichs wichtigster Partner endlich bereit, sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten für gemeinsame Ziele einzusetzen?
Die Antwort aus Berlin fiel tadelnd aus, vor allem aber reichlich verschreckt. Macron hatte einen wunden Punkt getroffen: In der deutschen Politik haben viele inzwischen begriffen, wie verwundbar Deutschland in Wirklichkeit ist. Sollte US-Präsident Donald Trump im kommenden Jahr wiedergewählt werden, wer könnte garantieren, dass er nicht aus einer Laune heraus die Nato verlässt? Damit würde der ebenso bequeme wie letztlich kostengünstige Schutzschirm wegfallen, unter dem wir seit dem Krieg leben. Der Streit um den deutschen Beitrag zum Nato-Budget nähme sich dann geradezu putzig aus: Mit zwei Prozent der Wirtschaftsleistung, der von Deutschland zugesagten, aber nicht eingehaltenen Zahlungsverpflichtung, ließe sich im Alleingang nicht einmal die Landesverteidigung organisieren.
Es liegt in deutschem Interesse, die Nato unbedingt zu erhalten. Aber auch dafür werden wir mehr tun müssen, und zwar nicht nur mit dem Scheckheft. Erste Ansätze gibt es: So spielt die Bundeswehr seit 2017 eine führende Rolle beim Aufbau einer Nato-Battlegroup in Litauen,
die der Abschreckung einer russischen Aggression gegen das Baltikum dienen soll. Es wurde in ganz Osteuropa als wichtiges Signal aufgenommen, dass die Deutschen trotz ihres sonderbaren Russland-Ticks bereit sind, sich für die Sicherheit ihrer östlichen Nachbarn zu engagieren.
Zugleich muss Deutschland vor allem mit Frankreich daran arbeiten, Europa militärisch selbstständiger zu machen – innerhalb der Nato wohlgemerkt. Die in Sonntagsreden gerne beschworene Europa-Armee ist illusorisch, aber eine stärkere Verflechtung der nationalen Streitkräfte ist möglich und wäre sinnvoll. Leicht wird das sicherlich nicht, denn es gilt, heikle Fragen zu klären: Könnten deutsche Soldaten, die in einen multinationalen Verband integriert werden, ohne gesondertes Bundestagsmandat in einen Einsatz geschickt werden, womöglich sogar außerhalb Europas? Müsste dafür das Grundgesetz geändert werden? Und wer würde diesen Einsatzbefehl überhaupt geben?
Ob wir in Deutschland, wo öffentliche Gelöbnisse von Rekruten bis heute politische Alarmstimmung auslösen, bereit sind, Antworten auf solche Fragen zu geben, kann man bezweifeln. Aber bisher fehlte ja häufig schon der Mut, diese Fragen überhaupt zu stellen. Nun ist die Zeit dafür gekommen. In einer Welt neuer Großmachtkonflikte kann sich Deutschland nicht länger aufführen wie eine große Schweiz. Wir können uns nicht länger davor drücken, der harten Realität der globalen Machtpolitik ins Auge zu schauen. Was das konkret für die deutsche Außenpolitik bedeutet – darüber muss endlich öffentlich gestritten werden.