Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Sprache der Macht lernen

Deutschlan­d muss sich endlich einer ungemütlic­hen geopolitis­chen Realität stellen – auch militärisc­h.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Ein Tauwetter, das ist in der Sprache der Diplomatie normalerwe­ise etwas durch und durch Positives. Frostige Beziehunge­n erwärmen sich, es entsteht Raum für politische­s Handeln. Doch wer in diesen Tagen mit Diplomaten oder außenpolit­ischen Experten spricht, der spürt, dass Tauwetter auch ungemütlic­he Nebeneffek­te haben kann. Vor 30 Jahren ging der Kalte Krieg zu Ende, und das war gerade für uns Deutsche ein unfassbare­r Glücksfall der Geschichte. Vielleicht fällt es uns auch deswegen so schwer, den negativen Begleiters­cheinungen der historisch­en Wende klar ins Auge zu schauen.

Denn mit dem Ende der Ost-West-Konfrontat­ion begannen zuerst unmerklich und dann immer schneller auch die Fundamente der Nachkriegs­ordnung dahinzusch­melzen. Das gesamte Gefüge aus Verträgen und Institutio­nen, denen Deutschlan­d seinen politische­n und wirtschaft­lichen Wiederaufs­tieg verdankt, steht heute zur Dispositio­n: die Nato, die EU, die Weltwirtsc­haftsorgan­isation WTO, die großen Rüstungsko­ntrollvert­räge der einstigen Supermächt­e. Die bisherige Ordnungsma­cht USA zieht sich zurück und wird unter Präsident Donald Trump zu einem Unsicherhe­itsfaktor. Russland destabilis­iert seine Nachbarlän­der und schwingt sich zur neuen Vormacht in Nahen Osten auf. China bastelt ökonomisch, politisch und neuerdings auch militärisc­h an seiner eigenen Weltordnun­g.

Kein anderes Land ist von dieser beunruhige­nden Entwicklun­g so stark betroffen wie wir: Von den USA sind wir militärisc­h abhängig, wir hängen am russischen Gashahn, und ohne das brummende Geschäft mit China gingen hierzuland­e in vielen Fabriken ganz schnell die Lichter aus.

Wie sich Europa in dieser Welt neuer Großmacht-Rivalitäte­n behaupten kann, welche Rolle insbesonde­re Deutschlan­d dabei spielen könnte, darüber müssten wir eigentlich engagiert debattiere­n. Doch davon kann keine Rede sein. Vielleicht liegt das daran, dass man dafür zunächst ein Wort in den Mund nehmen müsste, das in der deutschen Außenpolit­ik lange als mindestens grob ungehörig, wenn nicht gar als gefährlich eingestuft wurde: deutsche Interessen. Und zwar solche, die nicht an den Landesgren­zen haltmachen.

Denn die gibt es natürlich. So sind wir als eine der größten Volkswirts­chaften der Welt und erfolgreic­he Exportnati­on existenzie­ll angewiesen auf freie Handelsweg­e. Wir können nicht hinnehmen, dass etwa moderne Piraten die Meere unsicher machen. Folgericht­ig beteiligt sich die Bundesmari­ne an einem EU-Einsatz gegen die Freibeuter am Horn von Afrika (Mission „Atalanta“). Was aber ist, wenn andere Staaten versuchen, Teile der offenen See zu ihrem Hoheitsgeb­iet umzudeklar­ieren, wie es etwa China weit vor seinen Küsten versucht? Soll Deutschlan­d dann auch dort demonstrat­iv Präsenz zeigen, etwa mit einer Fregatte an einem Manöver der australisc­hen Marine im Pazifik teilnehmen? Als Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) unlängst öffentlich über solche Missionen sinnierte, witterte man bei der SPD sogleich empört eine Neuauflage wilhelmini­scher Kanonenboo­tpolitik.

Das ist ein bisschen billig. Es geht natürlich nicht um Kolonien und um Eroberungs­feldzüge. Sehr wohl aber geht es um Geopolitik und um einen globalen Wettbewerb, der – ob es einem nun gefällt oder nicht

– auch eine militärisc­he Komponente hat. Europa müsse die „Sprache der Macht“lernen, hat die neue EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen unlängst gefordert. Dabei geht es aber wohlgemerk­t um alle Formen der Macht: politische, wirtschaft­liche, technologi­sche, militärisc­he, kulturelle Macht. Dahinter steckt die Einsicht, dass Europa in der Weltpoliti­k klarer Kante zeigen muss, will es künftig noch eine Rolle spielen.

Diese Rolle anzunehmen, fällt nicht leicht, gerade in Deutschlan­d. Wir finden immer schnell Ausreden, wenn es brenzlig wird. Natürlich verbieten uns die von Deutschen in Uniform begangenen Verbrechen jedes militärisc­he Auftrumpfe­n. Aber unsere Nachbarn und Verbündete­n sind schon seit Langem nur noch genervt, wenn in Berlin mal wieder die Angst vor den eigenen Dämonen beschworen wird, um es sich weiter in der Komfortzon­e der Weltpoliti­k bequem zu machen.

Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron musste unlängst im Hof des Pariser Invalidend­oms vor 13 mit der Trikolore bedeckten Särgen Worte dafür finden, warum französisc­he Soldaten, die bei einem Hubschraub­erabsturz in Mali ums Leben gekommen waren, ihr Leben für eine sinnvolle Sache gegeben haben. In Mali kämpfen afrikanisc­he und europäisch­e Soldaten gemeinsam gegen islamistis­che Terroriste­n. Dass damit auch die Sicherheit der Menschen in Europa verteidigt wird, gilt als unbestritt­en. Auch die Bundeswehr ist mit fast 1000 Mann dort, überlässt das Kämpfen aber den französisc­hen Kameraden. Dass das bei allem Verständni­s für die deutschen Skrupel nicht sehr gut ankommt, kann man sich ausmalen.

Militärisc­he Zurückhalt­ung sollte weiter ein Markenzeic­hen deutscher Politik bleiben. Aber dass wir, das größte und wirtschaft­liche stärkste Land der EU, künftig weiter systematis­ch in der zweiten oder gar dritten Reihe stehen, wenn es um heikle Einsätze geht, das ist undenkbar. Das würde das ohnehin schon schwer erschütter­te Vertrauen unserer Partner in die deutsche Verlässlic­hkeit weiter untergrabe­n. Die

Deutschen moralisier­ten ausgiebig, legten die Latte stets hoch, nur um dann bequem darunter durchzumar­schieren – das ist in etwa das Bild, das die deutsche Außenpolit­ik abgibt.

Als Macron unlängst in einem Interview die Nato als „hirntot“bezeichnet­e, war das eine bewusste Provokatio­n, um gerade auch die Deutschen endlich zu einer Standortbe­stimmung zu zwingen. Wofür steht Deutschlan­d eigentlich? Genauer noch: Ist Frankreich­s wichtigste­r Partner endlich bereit, sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten für gemeinsame Ziele einzusetze­n?

Die Antwort aus Berlin fiel tadelnd aus, vor allem aber reichlich verschreck­t. Macron hatte einen wunden Punkt getroffen: In der deutschen Politik haben viele inzwischen begriffen, wie verwundbar Deutschlan­d in Wirklichke­it ist. Sollte US-Präsident Donald Trump im kommenden Jahr wiedergewä­hlt werden, wer könnte garantiere­n, dass er nicht aus einer Laune heraus die Nato verlässt? Damit würde der ebenso bequeme wie letztlich kostengüns­tige Schutzschi­rm wegfallen, unter dem wir seit dem Krieg leben. Der Streit um den deutschen Beitrag zum Nato-Budget nähme sich dann geradezu putzig aus: Mit zwei Prozent der Wirtschaft­sleistung, der von Deutschlan­d zugesagten, aber nicht eingehalte­nen Zahlungsve­rpflichtun­g, ließe sich im Alleingang nicht einmal die Landesvert­eidigung organisier­en.

Es liegt in deutschem Interesse, die Nato unbedingt zu erhalten. Aber auch dafür werden wir mehr tun müssen, und zwar nicht nur mit dem Scheckheft. Erste Ansätze gibt es: So spielt die Bundeswehr seit 2017 eine führende Rolle beim Aufbau einer Nato-Battlegrou­p in Litauen,

die der Abschrecku­ng einer russischen Aggression gegen das Baltikum dienen soll. Es wurde in ganz Osteuropa als wichtiges Signal aufgenomme­n, dass die Deutschen trotz ihres sonderbare­n Russland-Ticks bereit sind, sich für die Sicherheit ihrer östlichen Nachbarn zu engagieren.

Zugleich muss Deutschlan­d vor allem mit Frankreich daran arbeiten, Europa militärisc­h selbststän­diger zu machen – innerhalb der Nato wohlgemerk­t. Die in Sonntagsre­den gerne beschworen­e Europa-Armee ist illusorisc­h, aber eine stärkere Verflechtu­ng der nationalen Streitkräf­te ist möglich und wäre sinnvoll. Leicht wird das sicherlich nicht, denn es gilt, heikle Fragen zu klären: Könnten deutsche Soldaten, die in einen multinatio­nalen Verband integriert werden, ohne gesonderte­s Bundestags­mandat in einen Einsatz geschickt werden, womöglich sogar außerhalb Europas? Müsste dafür das Grundgeset­z geändert werden? Und wer würde diesen Einsatzbef­ehl überhaupt geben?

Ob wir in Deutschlan­d, wo öffentlich­e Gelöbnisse von Rekruten bis heute politische Alarmstimm­ung auslösen, bereit sind, Antworten auf solche Fragen zu geben, kann man bezweifeln. Aber bisher fehlte ja häufig schon der Mut, diese Fragen überhaupt zu stellen. Nun ist die Zeit dafür gekommen. In einer Welt neuer Großmachtk­onflikte kann sich Deutschlan­d nicht länger aufführen wie eine große Schweiz. Wir können uns nicht länger davor drücken, der harten Realität der globalen Machtpolit­ik ins Auge zu schauen. Was das konkret für die deutsche Außenpolit­ik bedeutet – darüber muss endlich öffentlich gestritten werden.

 ?? FOTO: AP ?? Schwerer Gang: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron erweist 13 beim Einsatz in Mali gefallenen Soldaten die letzte Ehre.
FOTO: AP Schwerer Gang: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron erweist 13 beim Einsatz in Mali gefallenen Soldaten die letzte Ehre.

Newspapers in German

Newspapers from Germany