Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Plötzlich feierten wir Weihnachten
Wie begehen die Tausenden nicht-christlichen Familien in Deutschland Weihnachten? Was ändert sich, wenn Katholiken in diese Familien einheiraten? Unsere Autorin berichtet über das Fest in multikulturellen Familien.
Es fing an mit der Erkenntnis, dass die anderen Kinder etwas hatten, was wir nicht hatten. Von einem Tag auf den anderen erzählten sie von kleinen Geschenken, die sie morgens bekamen. Schokolade, eine Legofigur, ein Spielzeugauto oder eine Haarspange – sie konnten doch nicht jeden Tag Geburtstag haben! Und die ganze Klasse? Nach einem sehr erkenntnisreichen Besuch bei meiner besten (evangelischen) Freundin erschloss sich mir das Konzept des Adventskalenders. Meine Eltern waren um Schadensbegrenzung bemüht und kauften uns – meinem Bruder, meiner Schwester und mir – jeweils einen Schokokalender.
Im nächsten Jahr kamen wir der Adventszeit etwas näher, ja, wir übertrafen sie sogar. Meine Mutter, die alles tat, damit wir nie das Gefühl hatten, benachteiligt zu sein, weil wir Kinder von Ausländern sind, bastelte uns Adventskalender. Allerdings unterschieden sich die Doganschen Kalender in einem wesentlichen Punkt von anderen: Sie hatten 31 Päckchen, statt der üblichen 24. Denn es galt ein nicht unwesentliches religiöses Hindernis zu überbrücken: Wir waren Muslime. Dass das Christkind am 24. Dezember kommt, beeindruckte uns wenig. Also verlängerte meine Mutter den Kalender, so dass er die Wartezeit auf Neujahr versüßte – denn das feierten wir in festlicher Kleidung mit der Familie und Geschenken.
Mit Weihnachten an sich hatten wir anfänglich wenig zu tun. Später, als junger Teenager feierte ich Weihnachten bei meiner besten Freundin. Nach der Trennung von Mutter und Vater verbrachte man Heiligabend bei der Mutter – und „man“, das waren meine beste Freundin, ihre beiden Schwestern, die Mutter, eine alleinerziehende Nachbarin mit Kleinkind, eine Muslimin (ich) und von Jahr zu Jahr auch mal andere Freundinnen, die wegen Familienstreit, Trennung oder anderer Katastrophen dazustießen. Im Nachhinein erst weiß ich, wie außergewöhnlich diese wirklich heiligen Abende für uns alle waren.
Was folgte, war das Kapitel „Deutsch-türkische Muslime versuchen, Weihnachten zu feiern und scheitern regelmäßig“. Im Laufe der Jahre hatten zwei deutsche, katholische Männer unsere Familie bereichert – für den einen war meine Mutter verantwortlich, für den anderen ich. Für meine Mutter war klar: Wir feiern jetzt auch Weihnachten. Sie besorgte einen Adventskranz, dessen vier Kerzen sie allesamt am 1. Dezember anzündete, denn: „Das sieht doch bescheuert aus, wenn nur eine Kerzen brennt. Das ist mir zu asymmetrisch.“Während ich es von meiner besten Freundin so kannte, dass der Weihnachtsbaum kurz vor Heiligabend ins Haus kommt, befand meine Mutter: „Viel zu schade! Das ist doch so schön, da möchte man doch viel länger etwas von haben.“Unser Weihnachtsbaum steht spätestens an Nikolaus in voller Pracht im Wohnzimmer.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Essen: In den ersten Jahren hat meine Mutter – deren Stärke eher in der Zubereitung mediterraner Gerichte wie Couscous, Lammragout und Auberginenpaste liegt – groß aufgetischt mit Putenrollbraten, Knödeln und Rotkohl. Irgendwann entschied sie, dass man so einen Braten auch wunderbar beim Fleischer des Vertrauens bestellen könnte. Heiligabend 2016: Der bestellte Putenbraten schmorte seit den Morgenstunden bei niedriger Temperatur im Ofen. Sogar meine Großeltern waren gekommen – sie wollten mal sehen, wie dieses Weihnachtsspektakel vonstatten geht. Als die Kürbissuppe ausgelöffelt war und meine Mutter und ihr Mann sich über den Braten beugten, hörte ich sie flüsternd „Ach du Schande, Schatzi, ach du Schande, Schatzi“rufen. Ich gesellte mich zu ihnen und sah die kleinen Speckwürfelchen in der Bratenfüllung. „Das ist doch Speck!“– „Ich glaube ja, Mutti.“– „Ist das vom Schwein?“– „Ich glaube ja, Mutti.“– „Ach du Schande!“Nun, der Braten wurde unter den Nachbarn
aufgeteilt, wir widmeten uns den köstlichen Beilagen. Nach ein paar Minuten hatten auch meine Großeltern den Schock überwunden, sich zur Feier von Christi Geburt fast ihre erste Portion Schweinefleisch einverleibt zu haben.
Heiligabend 2017: Dieses Jahr waren meine Großeltern nicht gekommen (sie beteuerten, dass das nicht an dem fast servierten Schweinefleisch gelegen habe), und dieses Mal hatte meine Mutter Putenbraten ohne Füllung bestellt – „um sicher zu gehen“. Die Vorspeise war ausgelöffelt, der Braten kam aus dem Ofen, meine Mutter schnitt ihn an und wurde ganz still. „Ich weiß nicht, irgendwie ist das Fleisch komisch“, sagte sie. Ich kramte in der Tüte des Schlachters und fand den Kassenzettel: „Spießbraten“stand darauf. Meine Mutter wurde blasser. Ich rief meinen Mann – damals noch mein Verlobter – dazu und bat ihn, das Fleisch zu probieren. Er probierte. „Ganz lecker“, befand er. „Also doch kein Schwein?“, rief meine Mutter deutlich erleichtert. „Achso, ja doch, definitiv Schwein.“Auch in diesem Jahr schmeckten die Beilagen vorzüglich.
Seit den Schweine-Jahren kochen wir jeden Gang komplett selbst, meine Mutter hat einen neuen Schlachter (der vorherige wechselt die Straßenseite, wenn er sie sieht), mein Mann, der sich besonders darin gefällt, Weihnachten im Hause Dogan nicht so richtig ernstzunehmen („So wie ihr Weihnachten feiert, macht das Christkind einen weiten Bogen um euer Haus“), wird umso mehr in die Verantwortung genommen, und so langsam glaube ich, dass unser Weihnachten dem anderer Familien nicht allzu unähnlich ist. Bei uns ist es etwas unbeholfener und etwas chaotischer, die religiöse Komponente fehlt komplett – doch das monieren viele ja auch schon bei christlichen Familien.
Unser Weihnachtsbaum steht spätestens an Nikolaus in voller Pracht im Wohnzimmer