Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Geschichte der Bienen
Im selben Moment fegte ein Windstoß über den Hofplatz, der Rauch vom Feuer blies uns ins Gesicht, und die Tränen flossen in Strömen. »Verdammter Rauch«, sagte ich. »Ja«, sagte er. »Verdammter Rauch.«
Wir standen reglos da, er zog die Schultern nach hinten und nahm sich zusammen. Dann setzte er sein übliches Grinsen auf.
»Und, George, womit kann ich dir heute behilflich sein?«
Gareth hatte recht. Die Beuten wurden sofort geliefert. Allison gab mir den Kredit, ohne mit der Wimper zu zucken, und schon zwei Tage später fuhr ein grauer Lastwagen auf meinen Hof. Ein mürrischer Fahrer stieg aus und fragte, wo ich sie haben wollte.
Er stellte sie auf der Wiese ab, noch bevor ich selbst dort angekommen war. Sagte kein Wort, reichte mir nur ein Klemmbrett mit einem Blatt, auf dem ich den Empfang quittieren sollte.
Dann standen sie dort. Starr. Genauso stahlgrau wie der Lastwagen, mit dem sie gekommen waren. Sie rochen nach Industriefarbe. Eine lange Reihe, einer genau wie der andere. Ich fröstelte und drehte mich weg.
Ich hoffte nur, dass die Bienen den Unterschied nicht merkten.
Aber sie würden es natürlich merken.
Sie merkten alles.
Tao
Der Junge stellte den gebratenen Reis vor mir auf den Tisch. Beim letzten Mal war er noch mit ein paar Stückchen Gemüse und einem kleinen Ei angereichert gewesen, heute war er lediglich mit dieser künstlichen Sojasoße gewürzt. Der Geruch stach mir in der Nase, ich musste mich beinahe wegdrehen, damit mir nicht schlecht wurde. In den letzten Tagen hatte ich kaum etwas gegessen, obwohl Xiara mir genug Geld gegeben hatte. Mehr als genug. Aber ich konnte nichts anderes zu mir nehmen als die trockenen Kekse. Jeder Nerv brannte, meine Mundhöhle war ausgetrocknet, die Haut an meinen Händen war rissig. Ich war dehydriert, vielleicht nahm ich nicht genug Flüssigkeit zu mir, vielleicht waren es all die Tränen, die mein Körper hinausgelassen hatte. Ich hatte geweint, bis keine mehr da waren, hatte mich mit Xiaras Stimme im Ohr leergeweint. Sie hatte mich jeden Tag besucht, hatte auf mich eingeredet, mir alles erklärt und mich zuletzt überzeugt. Und allmählich, nachdem ein wenig Zeit vergangen war, ergaben ihre Worte einen Sinn. Beinahe gierig griff ich nach ihnen. Vielleicht wollte ich auch nur, dass sie Sinn ergaben. Wollte ihr einfach folgen, um nicht mehr selbst denken zu müssen.
»Du hast ihn zu sehr geliebt«, sagte sie.
»Kann man jemanden zu sehr lieben?«
»Du warst wie alle Eltern. Du wolltest deinem Kind alles geben.« »Ja, ich wollte ihm alles geben.« »Alles ist viel zu viel.«
Für einen Sekundenbruchteil glaubte ich zu verstehen. Doch im nächsten Moment erschien es mir wieder sinnlos, es waren bloß leere Worte, denn alles, woran ich denken konnte, war Wei-Wen. Wei-Wen. Mein Kind.
Am Vortag war sie zum ersten Mal zu mir gekommen. Es würde kein langes Gespräch werden, sagte sie. Ich müsse jetzt nach Hause fahren und meine Trauer hintanstellen. Es warteten wichtige Aufgaben auf mich. Sie wollte, dass ich Reden hielt und über Wei-Wen sprach. Über die Bienen, die zurückgekehrt waren. Über das Ziel, das sie und ich mit ihnen verfolgten: sie wie Nutzpflanzen in einer kontrollierten Umgebung zu züchten und alle Kräfte dafür einzusetzen, dass sie sich wieder vermehrten, und zwar in einem so schnellen Tempo, dass alles wieder so werden würde wie früher. WeiWen solle zu einem Symbol werden, sagte sie. Und ich solle die trauernde Mutter sein, die es schaffte, den Blick auf die Zukunft zu richten und ihre eigenen Bedürfnisse dem Wohle der Gemeinschaft unterzuordnen. Wenn ich, die ich alles verloren habe, das kann, dann könnt ihr es auch. Sie ließ mir keine andere Wahl, und ein Teil von mir verstand auch, warum. Ich verstand, dass sie tat, was sie tun musste, oder glaubte tun zu müssen. Obwohl ich selbst noch immer nicht wusste, ob ich zu dem im Stande war, was sie sich von mir erhoffte.
Denn das Einzige, was einen Sinn ergab, war er. Sein Gesicht. Ich versuchte, es festzuhalten, sein Gesicht, zwischen Kuan und mir. Er sah zu uns auf. Mehr. Mehr. Engelchen, flieg. Das rote Tuch, das im Wind flatterte.
Morgen sollte ich abreisen. WeiWen musste hierbleiben. Später würde ich ihn vielleicht begraben dürfen, doch das war nicht wichtig. Dieser kleine, kalte, mit Frost überzogene Körper war ohnehin nicht er. Dieses Gesicht war nicht das seine, war nicht das Gesicht, an das ich mich die ganze Zeit zu erinnern versuchte.
Ich schob dem Jungen die Schale mit dem Reis hin.
»Das ist für dich.«
Er sah mich fragend an. »Wollen Sie denn gar nichts essen?« »Nein. Ich habe es für dich gekauft.«
Er blieb stehen und wippte mit dem Fuß.
»Nun setz dich schon.« Meine Stimme klang flehend. Hastig nahm er Platz, zog die Schale zu sich und betrachtete sie einen Moment lang beinahe glücklich, ehe er sie zum Mund hob und begann, den Reis in sich hineinzuschaufeln.
Nachdem er den schlimmsten Hunger gestillt hatte, wurde er ruhiger und versuchte, die Stäbchen langsamer zu den Lippen zu führen, als würden ihn die inneren Benimmregeln plötzlich daran erinnern, wie man anständig aß. »Danke«, sagte er leise.
Ich lächelte.
»Weißt du inzwischen schon mehr?«, fragte ich, nachdem ich ihm eine Weile beim Essen zugesehen hatte.
»Was meinen Sie, worüber?« »Über dich und deinen Vater. Dürft ihr hier wohnen bleiben?«
»Ich weiß es nicht.« Er starrte auf die Tischplatte. »Ich weiß nur, dass mein Vater es jeden Tag bereut. Wir hatten geglaubt, wir wären hier sicher, aber inzwischen hat sich alles geändert. Jetzt sind wir nur noch ein Ärgernis.«
»Könnt ihr nicht weggehen?« »Aber wohin? Wir haben kein Geld und keinen Ort, an den wir gehen können.«
Wieder überkam mich die Machtlosigkeit. Noch eine Sache, gegen die ich nichts ausrichten konnte.
Nein. Dies war kein unlösbares Problem. Dies war etwas, was ich schaffen konnte.
(Fortsetzung folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRUPPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUNG: URSEL ALLENSTEIN