Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Mehr Frauen ohne Bleibe
Der Anteil der Frauen unter den Wohnungslosen ist auf 27 Prozent gestiegen. Männer erwarten häufig Sex als Gegenleistung für eine Wohngemeinschaft.
BERLIN Immer mehr Frauen in Deutschland haben nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe keine eigene Bleibe und sind in Notunterkünften von Gewalt durch Männer bedroht. „Es ist eine prekäre und gefährliche Situation für Frauen, dass es immer noch Gemeinschaftsunterkünfte und sogar sanitäre Anlagen gibt, die nicht nach Geschlechtern getrennt sind“, sagte die Geschäftsführerin des Verbandes, Werena Rosenke, unserer Redaktion.
„Die Frauen sind dort völlig ungeschützt. Waschräume sind nicht abschließbar. Außerhalb von Unterkünften leben sie oft in Mitwohnverhältnissen, um nicht auf der Straße zu sitzen. Dafür erwarten Männer in der Regel Sex“, sagte Rosenke. Das berichteten betroffene Frauen den Sozialarbeiterinnen, wenn sie Vertrauen gefasst hätten.
Rosenke forderte die Einrichtung von Hilfeeinrichtungen und Unterkünften, die ausschließlich Frauen vorbehalten sind, Frauencafés und von Frauen geführte niedrigschwellige Beratungsstellen. Frauen seien oft schon vor dem Verlust ihres Zuhauses Opfer von Gewalt geworden und hätten Hemmungen, sich Hilfe von offizieller Seite zu holen, wenn sie dort wieder auf Männer träfen.
Ferner appellierte Rosenke an die Bundesregierung, einen Schuldenerlass für die Wohnungslosen zu ermöglichen, die bei Krankenkassen Schulden haben. Außerdem sollten Bund, Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen einen Notfallfonds bilden, aus dem Arztbesuche und Krankenbehandlungen der Wohnungslosen bezahlt werden können. Dieser Fonds müsse sich auf 150 Millionen Euro pro Jahr belaufen.
Im Laufe der vergangenen Jahre stieg den Angaben zufolge der Anteil der Frauen unter den Menschen, die keine eigene Wohnung haben, kontinuierlich auf jetzt 27 Prozent. Die größte Gruppe stellten die unter 25-Jährigen dar. Ihr Anteil belaufe sich auf 23 Prozent gegenüber 17 Prozent bei den Männern in dieser Altersgruppe. Dass insgesamt ein Fünftel aller Wohnungslosen so jung sei, offenbare noch ein ganz anderes Problem: Würden diese Menschen nicht wieder integriert, sei ihre Zukunft schon verbaut, bevor ihr Leben richtig begonnen habe.
2018 waren der Bundesarbeitsgemeinschaft zufolge 678.000 Menschen ohne eigene Unterkunft. Gegenüber dem Vorjahr war das eine Zunahme um vier Prozent. Rund zwei Drittel der Wohnungslosen, 441.000 Menschen, seien anerkannte Geflüchtete. Seit 2016 schließt der Verband in seine Schätzung deren Zahl mit ein, bezieht sich aber in der näheren Auswertung – auch bei dem
Anteil der Frauen – ausschließlich auf die 237.000 Deutschen, EU-Migranten und Drittstaatler. Der Grund: Zu den geflüchteten Menschen fehlten der Bundesarbeitsgemeinschaft sozio-demografische Angaben wie Geschlechterverteilung, Familienstand und Haushaltsgröße. Viele von ihnen blieben in den Asylunterkünften. Rosenke begrüßte, dass die Bundesregierung künftig selbst Zahlen der Wohnungslosen
erheben will. Bisher hat die Regierung darauf verzichtet.
Im Dezember sind Rosenke zufolge zwei Obdachlose bei Minusgraden erfroren. Ein Mann habe tot auf einem Feld bei Rostock, ein anderer vor einer Kirche in Sachsen-Anhalt gelegen. 41.000 Menschen unter den Wohnungslosen seien ohne jedes Obdach. Rosenke beklagte, es würden in Deutschland weiterhin viel zu wenige Sozialwohnungen
gebaut. Benötigt würden pro Jahr bis zu 100.000, neu gebaut worden seien 2017 aber lediglich 27.000. Damit werde nicht einmal der Teil ausgeglichen, der wegfalle, wenn Wohnungen nach 20 Jahren aus der Sozialbindung fielen.
Problematisch sei die Gesundheitsversorgung der Wohnungslosen. Viele hätten Schulden bei den Krankenkassen oder gar keine Versichertenkarte mehr. Arztbesuche seien nur begrenzt möglich. Die Geschäftsführerin forderte einen Schuldenerlass, wie es ihn für die Betroffenen schon 2013 gegeben habe. Damals hätten aber viele von der Möglichkeit gar nicht erfahren.
Außerdem sollten der Bund, die Krankenkassen und die kassenärztlichen Vereinigungen einen Notfallfonds bilden, aus dem Behandlungen bezahlt werden könnten. Bei einem Betrag von 160 Euro, der pro Wohnungslosem im Quartal dafür angesetzt werden müsse, wären das rund 150 Millionen Euro. Die anerkannten Geflüchteten müssten da nicht einbezogen werden, da sie in der Regel krankenversichert seien.