Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Beste Freunde werden Brüder

Stephan Soboll und Cord Wiebke sind seit ihrer Kindheit befreundet. Dann heiratet die Mutter des einen den Vater des anderen. Weihnachte­n ist seitdem noch schöner.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Früher lief Weihnachte­n so ab: Cudde und Dicken feierten bei ihren Familien, und wenn die Bescherung vorbei war, trafen sie sich in der Stadt. Wobei „Stadt“ein großes Wort ist für ihre Heimat: Vechta liegt in Niedersach­sen, hat 30.000 Einwohner, und an Heiligaben­d ist nichts los. Gegen 22 Uhr kamen sie in der „Destille“zusammen, zahlten vom Weihnachts­geld den Deckel, auf den sie in den vergangene­n Wochen alle Getränke hatten anschreibe­n lassen, und prosteten sich zu. Die „Destille“war die eine Kneipe, die an diesem Tag geöffnet hatte. Die andere hieß „Banane“und lag auch an der Großen Straße. Cudde und Dicken waren beste Freunde, und sie verstehen sich noch immer sehr gut. Trotzdem hat sich im weihnachtl­ichen Ablauf etwas Entscheide­ndes verändert. Die beiden verbringen den Abend heute von Anfang an gemeinsam. Sie sind nämlich inzwischen Brüder.

Cudde: „Also, angebahnt hatte sich das eigentlich nicht.“

Dicken: „Ich war ganz schön überrascht.“

Beide sind nun 47, sie heißen eigentlich Cord Wiebke und Stephan Soboll, aber so nennt sie zuhause niemand. Sie sind befreundet, seit sie zehn Jahre alt waren. Die Elternhäus­er lagen 600 Meter voneinande­r entfernt. Von der fünften Klasse an besuchten sie dieselbe Schule. Dicken, der im Januar geboren ist, lernte im Jahrgang über Cudde, der im November auf die Welt kam. Sie trafen sich außerdem dreimal in der Woche beim Schwimmtra­ining. Sportfreun­de Niedersach­sen, Leistungss­chwimmen, Wettkampf-Niveau. Dicken war der Talentiert­ere und Schnellere, er gehörte über 200 Meter Rücken zu den besten fünf in Niedersach­sen.

Cudde: „Wir sind zusammen mit dem Fahrrad zum Schwimmbad gefahren. Nachmittag­s bin ich meist zu Dicken, seine Eltern hatten Kabelferns­ehen. Wir haben Federball gespielt. Manchmal haben wir im Garten gezeltet und nachts TKKG-Kassetten gehört.“

Dicken: „Cudde war indirekt Familie. Jetzt ist er direkt Familie.“

Vechta ist eine Region, in der die Menschen nicht so viel reden, über Gefühle schon mal gar nicht. Deshalb sind kleine

Gesten oft Symbole für Zuneigung. Wenn einer das Bierglas an das eines anderen stößt, kann das eine Liebeserkl­ärung sein. Wenn einer einem anderen zunickt, liegt darin manchmal eine Welt.

Dicken: „Wie soll man das sagen? War geil.“

Im Winter spielten sie auf zugefroren­en Seen und Tümpeln in den Feldern Eishockey. Manchmal brachen sie ein, dann standen sie bis zu den Hüften im Matsch. Einmal froren Cuddes Ohren ein. „Die sahen aus wie Blumenkohl.“Er musste zum Arzt, und noch heute muss er aufpassen, wenn es kälter wird. Sie arbeiteten in den Osterund Sommerferi­en auf dem Bau, um Geld zu verdienen. Sie veranstalt­eten Partys und drehten gemeinsam Filme, einer hieß „Der Un-Sinn des Lebens“. Mit 15 entdeckten sie die Musik. Sie hörten Deutschpun­k: Slime, Razzia, EA 80.

Dicken: „Ich werde Dicken genannt, weil ich ganz am Anfang ziemlich dick war, zwischenze­itlich dann gar nicht mehr, und mindestens die letzten zehn Jahre wieder. Und warum Cord Cudde heißt, weiß eigentlich keiner.“

Cudde und Dicken gründeten eine Band, die hieß Bundessozi­alhilfeges­etz, kurz B.S.H.G. Cudde schrieb die Texte und sang, Dicken spielte Gitarre. Sie stiegen zu Szene-Größen auf, ihr Lied „Kein 4. Reich“landete auf dem legendären Punk-Sampler „Schlachtru­fe BRD“. Obwohl Dicken schon in Köln Maschinenb­au studierte und Cudde in Münster Geschichte

und Sozialwiss­enschaften, kamen sie oft nach Vechta zurück, um zu proben. Sie traten in Bremen auf, in Neu-Isenburg, Minden und Gotha. Die Gruppe blieb bis 1996 zusammen, damals trennten sich Cuddes Eltern.

Cudde: „Wenn ich am Mikrofon Mist gebaut habe, habe ich zu Dicken geguckt. Sein Blick sagte alles.“

Cudde brach sein Studium bald ab, irgendwie war das nichts für ihn. Er ließ sich zum Maurer und Betonbauer ausbilden, in der Firma, in der er als Schüler ausgeholfe­n hatte. Im Jahr 2000 machte er seinen Meister. Heute arbeitet er als Polier im Hochbau. Einsatzgeb­iet: Nordwestde­utschland. Er fuhr mit Dicken in Urlaub, nach Dänemark zum Beispiel, und als Cudde heiratete, war Dicken Trauzeuge. Kennengele­rnt hat Cudde seine Frau übrigens in Vechtas anderer Kneipe, der „Banane“. Dicken ging nach dem Studium und einer Lehre zum Industrie-Mechaniker

zu Siemens nach München. Er leitet dort IT-Projekte. 2004 starb Dickens Mutter.

Cudde: „Unsere Eltern kannten sich vom Sehen, die Stadt war ja klein. Aber persönlich kennengele­rnt haben sie sich durch uns.“

Dicken: „Ich erinnere mich, dass wir bei Cudde fürs Abi gelernt haben. Wobei wir gar nicht lernten, sondern Bier tranken und Chips aßen. Und irgendwann kam Inge und brachte belegte Brote, weil: Ihr seid so hart am Arbeiten, da muss man ja auch mal was essen.“

Inge ist Cuddes Mutter, sie ist 73 und heiratete 2006 Dickens Vater Gerd (82). Inge ist also auch Dickens Stiefmutte­r, und Gerd ist der Stiefvater von Cudde. Norddeutsc­hes Patchwork.

Cudde: „Ich hab das übers Telefon erfahren. Und ich habe mich für meine Mutter gefreut. Die sind ja nicht zusammen, weil sie sich hassen, sag ich mal. Und den Gerd, den mag ich wohl. Der ist brutal oldschool, der legt seiner Frau die Welt zu Füßen.“

Dicken: „Cudde rief an und sagte, du glaubst nicht, was jetzt kommt! Ich fand das kurzzeitig schräg, aber auf keinen Fall negativ. Ganz charmant eigentlich. Die Inge ist ein Glücksgrif­f für Papa.“

Die Hochzeit sei ja auch steuerlich sinnvoll, sagen Cudde und Dicken, und dass die beiden späten Eheleute halt nicht so gut allein sein könnten. Inge und Gerd lassen es sich jetzt gut gehen, sagen beide, und Cudde meint, man könne ihnen die Verliebthe­it schon anmerken. 2006 sei ja ohnehin ein tolles Jahr gewesen, „wegen der Fußball-WM und so“.

Cudde: „Leuten, die ich nicht kenne, stelle ich Dicken als meinen besten Kumpel vor. Erst nach ein paar Minuten sage ich, dass er auch mein Stiefbrude­r ist.“

Dicken lebt inzwischen in Fürth, sechs Stunden dauert die Fahrt nach Telbrake, dem Ortsteil von Vechta, in dem Cudde wohnt. Dreimal im Jahr sehen die beiden einander, aber sie telefonier­en oft, wobei Cudde meist derjenige ist, der anruft.

Cudde: „Wenn das alles nicht passiert wäre, hätten wir heute vielleicht gar nicht mehr so viel miteinande­r zu tun. So ist Dicken häufiger mal hier, und es gibt am Telefon immer etwas zu besprechen.“

Dicken: „Bei richtigen Freundscha­ften ist es nicht wichtig, wie oft man sich sieht oder miteinande­r spricht.“

Cudde ist nun selbst Vater, sein Sohn wurde vor sieben Jahren geboren. Sie bauen Burgen im Stroh auf den Feldern hinter dem Haus. Sie haben eine Feuerstell­e und sitzen gemeinsam da und schauen in die Flammen. Und an Weihnachte­n kommen alle zusammen. Inge kocht. Muscheln für Cudde, weil er die so gerne isst. Für Dicken und die anderen gibt es Forelle.

Cudde: „Das Coole ist, dass Dicken an Heiligaben­d auf einmal neben mir auf dem Sofa saß.“

Beste Freunde, das ist ein beliebtes Motiv in der Popkultur. Romane von Mark Twains „Huckleberr­y Finn“bis Wolfgang Herrndorfs „Tschick“handeln davon. Bruce Springstee­n hat sie in dem Lied „No Surrender“besungen: „We swore blood brothers against the wind / Now I’m ready to grow young again“. Und dann passiert das wirklich: Freunde werden Brüder. Ist das nicht der Traum: Der beste Kumpel, der Blutsbrude­r sozusagen, wird nun ganz offiziell Teil der eigenen Familie?

Dicken: „Klar, ist schon schön.“

Info Der Autor ist mit Cord Wiebke und Stephan Soboll zur Schule gegangen.

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Cord „Cudde“Wiebke 1994 im Urlaub am Meer.
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FOTOS: PRIVAT Über Weihnachte­n zuhause: Stephan Soboll (l.) und Cord Wiebke, beide 47, am vergangene­n Wochenende in Vechta.

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