Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Beste Freunde werden Brüder
Stephan Soboll und Cord Wiebke sind seit ihrer Kindheit befreundet. Dann heiratet die Mutter des einen den Vater des anderen. Weihnachten ist seitdem noch schöner.
Früher lief Weihnachten so ab: Cudde und Dicken feierten bei ihren Familien, und wenn die Bescherung vorbei war, trafen sie sich in der Stadt. Wobei „Stadt“ein großes Wort ist für ihre Heimat: Vechta liegt in Niedersachsen, hat 30.000 Einwohner, und an Heiligabend ist nichts los. Gegen 22 Uhr kamen sie in der „Destille“zusammen, zahlten vom Weihnachtsgeld den Deckel, auf den sie in den vergangenen Wochen alle Getränke hatten anschreiben lassen, und prosteten sich zu. Die „Destille“war die eine Kneipe, die an diesem Tag geöffnet hatte. Die andere hieß „Banane“und lag auch an der Großen Straße. Cudde und Dicken waren beste Freunde, und sie verstehen sich noch immer sehr gut. Trotzdem hat sich im weihnachtlichen Ablauf etwas Entscheidendes verändert. Die beiden verbringen den Abend heute von Anfang an gemeinsam. Sie sind nämlich inzwischen Brüder.
Cudde: „Also, angebahnt hatte sich das eigentlich nicht.“
Dicken: „Ich war ganz schön überrascht.“
Beide sind nun 47, sie heißen eigentlich Cord Wiebke und Stephan Soboll, aber so nennt sie zuhause niemand. Sie sind befreundet, seit sie zehn Jahre alt waren. Die Elternhäuser lagen 600 Meter voneinander entfernt. Von der fünften Klasse an besuchten sie dieselbe Schule. Dicken, der im Januar geboren ist, lernte im Jahrgang über Cudde, der im November auf die Welt kam. Sie trafen sich außerdem dreimal in der Woche beim Schwimmtraining. Sportfreunde Niedersachsen, Leistungsschwimmen, Wettkampf-Niveau. Dicken war der Talentiertere und Schnellere, er gehörte über 200 Meter Rücken zu den besten fünf in Niedersachsen.
Cudde: „Wir sind zusammen mit dem Fahrrad zum Schwimmbad gefahren. Nachmittags bin ich meist zu Dicken, seine Eltern hatten Kabelfernsehen. Wir haben Federball gespielt. Manchmal haben wir im Garten gezeltet und nachts TKKG-Kassetten gehört.“
Dicken: „Cudde war indirekt Familie. Jetzt ist er direkt Familie.“
Vechta ist eine Region, in der die Menschen nicht so viel reden, über Gefühle schon mal gar nicht. Deshalb sind kleine
Gesten oft Symbole für Zuneigung. Wenn einer das Bierglas an das eines anderen stößt, kann das eine Liebeserklärung sein. Wenn einer einem anderen zunickt, liegt darin manchmal eine Welt.
Dicken: „Wie soll man das sagen? War geil.“
Im Winter spielten sie auf zugefrorenen Seen und Tümpeln in den Feldern Eishockey. Manchmal brachen sie ein, dann standen sie bis zu den Hüften im Matsch. Einmal froren Cuddes Ohren ein. „Die sahen aus wie Blumenkohl.“Er musste zum Arzt, und noch heute muss er aufpassen, wenn es kälter wird. Sie arbeiteten in den Osterund Sommerferien auf dem Bau, um Geld zu verdienen. Sie veranstalteten Partys und drehten gemeinsam Filme, einer hieß „Der Un-Sinn des Lebens“. Mit 15 entdeckten sie die Musik. Sie hörten Deutschpunk: Slime, Razzia, EA 80.
Dicken: „Ich werde Dicken genannt, weil ich ganz am Anfang ziemlich dick war, zwischenzeitlich dann gar nicht mehr, und mindestens die letzten zehn Jahre wieder. Und warum Cord Cudde heißt, weiß eigentlich keiner.“
Cudde und Dicken gründeten eine Band, die hieß Bundessozialhilfegesetz, kurz B.S.H.G. Cudde schrieb die Texte und sang, Dicken spielte Gitarre. Sie stiegen zu Szene-Größen auf, ihr Lied „Kein 4. Reich“landete auf dem legendären Punk-Sampler „Schlachtrufe BRD“. Obwohl Dicken schon in Köln Maschinenbau studierte und Cudde in Münster Geschichte
und Sozialwissenschaften, kamen sie oft nach Vechta zurück, um zu proben. Sie traten in Bremen auf, in Neu-Isenburg, Minden und Gotha. Die Gruppe blieb bis 1996 zusammen, damals trennten sich Cuddes Eltern.
Cudde: „Wenn ich am Mikrofon Mist gebaut habe, habe ich zu Dicken geguckt. Sein Blick sagte alles.“
Cudde brach sein Studium bald ab, irgendwie war das nichts für ihn. Er ließ sich zum Maurer und Betonbauer ausbilden, in der Firma, in der er als Schüler ausgeholfen hatte. Im Jahr 2000 machte er seinen Meister. Heute arbeitet er als Polier im Hochbau. Einsatzgebiet: Nordwestdeutschland. Er fuhr mit Dicken in Urlaub, nach Dänemark zum Beispiel, und als Cudde heiratete, war Dicken Trauzeuge. Kennengelernt hat Cudde seine Frau übrigens in Vechtas anderer Kneipe, der „Banane“. Dicken ging nach dem Studium und einer Lehre zum Industrie-Mechaniker
zu Siemens nach München. Er leitet dort IT-Projekte. 2004 starb Dickens Mutter.
Cudde: „Unsere Eltern kannten sich vom Sehen, die Stadt war ja klein. Aber persönlich kennengelernt haben sie sich durch uns.“
Dicken: „Ich erinnere mich, dass wir bei Cudde fürs Abi gelernt haben. Wobei wir gar nicht lernten, sondern Bier tranken und Chips aßen. Und irgendwann kam Inge und brachte belegte Brote, weil: Ihr seid so hart am Arbeiten, da muss man ja auch mal was essen.“
Inge ist Cuddes Mutter, sie ist 73 und heiratete 2006 Dickens Vater Gerd (82). Inge ist also auch Dickens Stiefmutter, und Gerd ist der Stiefvater von Cudde. Norddeutsches Patchwork.
Cudde: „Ich hab das übers Telefon erfahren. Und ich habe mich für meine Mutter gefreut. Die sind ja nicht zusammen, weil sie sich hassen, sag ich mal. Und den Gerd, den mag ich wohl. Der ist brutal oldschool, der legt seiner Frau die Welt zu Füßen.“
Dicken: „Cudde rief an und sagte, du glaubst nicht, was jetzt kommt! Ich fand das kurzzeitig schräg, aber auf keinen Fall negativ. Ganz charmant eigentlich. Die Inge ist ein Glücksgriff für Papa.“
Die Hochzeit sei ja auch steuerlich sinnvoll, sagen Cudde und Dicken, und dass die beiden späten Eheleute halt nicht so gut allein sein könnten. Inge und Gerd lassen es sich jetzt gut gehen, sagen beide, und Cudde meint, man könne ihnen die Verliebtheit schon anmerken. 2006 sei ja ohnehin ein tolles Jahr gewesen, „wegen der Fußball-WM und so“.
Cudde: „Leuten, die ich nicht kenne, stelle ich Dicken als meinen besten Kumpel vor. Erst nach ein paar Minuten sage ich, dass er auch mein Stiefbruder ist.“
Dicken lebt inzwischen in Fürth, sechs Stunden dauert die Fahrt nach Telbrake, dem Ortsteil von Vechta, in dem Cudde wohnt. Dreimal im Jahr sehen die beiden einander, aber sie telefonieren oft, wobei Cudde meist derjenige ist, der anruft.
Cudde: „Wenn das alles nicht passiert wäre, hätten wir heute vielleicht gar nicht mehr so viel miteinander zu tun. So ist Dicken häufiger mal hier, und es gibt am Telefon immer etwas zu besprechen.“
Dicken: „Bei richtigen Freundschaften ist es nicht wichtig, wie oft man sich sieht oder miteinander spricht.“
Cudde ist nun selbst Vater, sein Sohn wurde vor sieben Jahren geboren. Sie bauen Burgen im Stroh auf den Feldern hinter dem Haus. Sie haben eine Feuerstelle und sitzen gemeinsam da und schauen in die Flammen. Und an Weihnachten kommen alle zusammen. Inge kocht. Muscheln für Cudde, weil er die so gerne isst. Für Dicken und die anderen gibt es Forelle.
Cudde: „Das Coole ist, dass Dicken an Heiligabend auf einmal neben mir auf dem Sofa saß.“
Beste Freunde, das ist ein beliebtes Motiv in der Popkultur. Romane von Mark Twains „Huckleberry Finn“bis Wolfgang Herrndorfs „Tschick“handeln davon. Bruce Springsteen hat sie in dem Lied „No Surrender“besungen: „We swore blood brothers against the wind / Now I’m ready to grow young again“. Und dann passiert das wirklich: Freunde werden Brüder. Ist das nicht der Traum: Der beste Kumpel, der Blutsbruder sozusagen, wird nun ganz offiziell Teil der eigenen Familie?
Dicken: „Klar, ist schon schön.“
Info Der Autor ist mit Cord Wiebke und Stephan Soboll zur Schule gegangen.