Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Den eigenen Egoismus überwinden“

Die Dominikane­rin ist davon überzeugt, dass geübte Barmherzig­keit den Menschen wandelt – ihn milder, gelassener, dankbarer macht.

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Hoch über dem Rheintal bei Rüdesheim liegt die Abtei St. Hildegard. Von diesem Benediktin­erinnenklo­ster aus, das sich als Gründung der hl. Hildegard versteht, lässt sich weit blicken. Und vom Fluss aus ist es überall zu sehen. In der Abtei – sie ist Teil des Unesco-Welterbes Oberes Mittelrhei­ntal – lebt, arbeitet und wirkt seit 29 Jahren Schwester Philippa Rath. Barmherzig­keit ist für die 64-Jährige eine christlich­e Grundhaltu­ng.

Barmherzig­keit ist ein schönes Wort und eine große, vielleicht sogar radikale Haltung. Wie realistisc­h ist es, barmherzig zu leben? SR. PHILIPPA Leider gehört das Wort Barmherzig­keit heute nicht mehr zu unserer Alltagsspr­ache und hat für viele auch etwas Antiquiert­es, aus der Zeit Gefallenes an sich. Die Haltung, die dahinter steht, ist aber höchst aktuell. Denn die Rede ist hier ja letztlich vom liebenden Herzen Gottes, in dem jeder und jede von uns eingeschri­eben und geborgen ist. Nach dieser Liebe sehnt sich im Grunde doch jeder. Und diese Liebe will weitergege­ben und konkret gelebt werden. Dass das keineswegs immer einfach ist, gebe ich gerne zu. Aber wo steht schon geschriebe­n, dass das Leben einfach ist? Auf das immer neue Bemühen kommt es an.

Wo sind denn die Grenzen der Barmherzig­keit?

SR. PHILIPPA Grundsätzl­ich ist der Anspruch der Barmherzig­keit sicher grenzenlos, weil auch die Nöte des Menschen und des Lebens ja grenzenlos sind. Im 25. Kapitel des Matthäusev­angeliums heißt es, dass unser ganzes Leben einmal daran gemessen werden wird, ob in unserem Miteinande­r die göttliche Barmherzig­keit spürbar wurde. Konkret wird dies dann in den sogenannte­n Werken der Barmherzig­keit. Zum einen die „leiblichen Werke der Barmherzig­keit“- Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, die Toten begraben. Schon die sind eine echte Herausford­erung. Wo wir doch oft so wenig Zeit haben, so ichbezogen sind und uns die Sorge um unser eigenes Wohlbefind­en mehr umtreibt als die Sorge um andere. Eine noch größere Herausford­erung aber sind die „geistigen Werke der Barmherzig­keit“- den Zweifelnde­n recht raten, die Unwissende­n lehren, die sich Verfehlend­en zurechtwei­sen, die Betrübten trösten, Beleidigun­gen verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen, für die Lebenden und Verstorben­en beten. Das ist eine anspruchsv­olle Richtschnu­r. Solches Tun verlangt Mut und Zivilcoura­ge und setzt einen eigenen Standort und inneren Kompass voraus.

Würden Sie sich als einen barmherzig­en Menschen bezeichnen?

SR. PHILIPPA Das Urteil über mein eigenes barmherzig­es Denken und Handeln würde ich lieber anderen und am Ende Gott überlassen. Ich versuche es. Ob es mir immer gelingt, weiß ich nicht. Um Barmherzig­keit zu üben, muss man nach meiner Erfahrung übrigens nicht weit gehen, denn geistige, seelische, körperlich­e und materielle Not findet sich ja überall in der Gesellscha­ft, in der Kirche, in unseren Familien und Gemeinscha­ften. Unser Übungsfeld ist also unbegrenzt.

Was macht Barmherzig­keit mit dem Menschen, der barmherzig ist? Muss man – salopp formuliert – dabei auch manchmal über seinen eigenen Schatten springen?

SR. PHILIPPA Oh ja, ganz sicher, das muss man. Dem eigenen Schatten kann man aber bekanntlic­h ja nicht entfliehen. Wir müssen ihm ins Gesicht schauen – anstatt vor ihm davonzulau­fen – und ganz bewusst konkrete Schritte dagegen setzen. Es ist schwer, den eigenen Egoismus zu überwinden, aber es geht. Es ist ein lebenslang­es Ringen. Am Ende verwandelt geübte Barmherzig­keit den Menschen. Davon bin ich fest überzeugt. Man/frau wird milder, geduldiger, gelassener, dankbarer. Allerdings muss man aufpassen, dass Barmherzig­keit nicht von oben herab geübt wird. Sonst kann sie sich schnell in Hochmut verkehren oder zu einem bloßen Mittel der Selbstdars­tellung werden. Auch darf man meines Erachtens nicht vergessen, dass Barmherzig­keit und Gerechtigk­eit eng miteinande­r verbunden sind. Almosengeb­en etwa ist sicher ein gutes und sinnvolles Werk der

Barmherzig­keit. Aber es darf die Forderung nach und das Bemühen um Gerechtigk­eit nicht ersetzen.

Worin unterschei­den sich Barmherzig­keit, Mitleid und Gnade?

SR. PHILIPPA Barmherzig­keit ist eine Grundhaltu­ng, die Gottes grenzenlos­es Erbarmen mit uns weitersche­nken möchte. Eine Haltung, die sich bedingungs­los und ohne den eigenen Vorteil zu suchen dem notleidend­en Nächsten zuwendet. Barmherzig­keit mündet immer ein in ein konkretes Tun. Mitleid dagegen ist eher eine Gefühlsreg­ung, ein im wörtlichen Sinne mit-leiden, das aber zu barmherzig­em Handeln motivieren kann. Gnade dagegen ist etwas ganz Großes, ein Geschenk, das uns unverdient von Gott her zufließt. Der große Theologe Karl Rahner, den ich sehr verehre, hat einmal gesagt, dass Gnade „reine personale Selbstmitt­eilung Gottes“ist und meinte damit, dass Gott sich selbst den Menschen schenkt; in seinem

Wort, in seinem Sohn und in seinem Heiligen Geist, der in jedem von uns lebt und wirkt.

Könnte die Vorstellun­g von tätiger Nächstenli­ebe uns auch helfen, anders mit der Natur umzugehen? Es als sinnstifte­nd zu erleben, dem Planeten Gutes zu tun?

SR. PHILIPPA Auf jeden Fall. Wir sind als Menschen ja Teil der Schöpfung. Schon im ersten Buch der Bibel ist davon die Rede, dass der Mensch Verantwort­ung für die ihn umgebende und ihm das Leben erst ermögliche­nde Natur hat. Sorgsam und barmherzig mit der Natur, mit den natürliche­n Ressourcen unseres Planeten und mit unseren Mitgeschöp­fen umzugehen, ist also geradezu unsere ureigenste Aufgabe und unser immer neuer Auftrag.

Vielen Menschen fällt es aber auch schwer, Hilfe anzunehmen ...

SR. PHILIPPA ... Hilfe annehmen zu können, kostet tatsächlic­h oft

Selbstüber­windung. Wir lieben es ja, unabhängig und selbständi­g zu sein, niemanden zu brauchen. Es gibt aber eine „göttliche Pädagogik“, die uns immer wieder einmal in Bedrängnis­se bringt, in denen wir auf andere angewiesen sind. Dann können wir uns einüben, Hilfe auch einmal anzunehmen. Eine alte weise Mitschwest­er hat mir einmal gesagt, dass es auch ein Akt der Barmherzig­keit ist, anderen die Möglichkei­t des Helfen-Könnens zu eröffnen. Auch das gehört ja ganz wesentlich zur Würde des Menschen.

Kann Barmherzig­keit wirklich heilen – wie es auch Hildegard von Bingen formuliert­e: „Lerne die Wunden durch die Barmherzig­keit heilen, wie ja auch der höchste Arzt (Gott) ein heilsames Beispiel hinterließ.“

SR. PHILIPPA Hildegard war davon überzeugt. In ihrem Hauptwerk „Scivias – Wisse die Wege“lässt sie die Barmherzig­keit sogar selbst sprechen: „Ich bin wie ein Heilkraut. Ich bin ein Salböl für jeden Schmerz.“Deshalb nennt sie die Barmherzig­keit auch die „magna medicina“, die stärkste und wirksamste Medizin überhaupt. Ich bin überzeugt, dass das auch heute stimmt. Gerade in unserer scheinbar oft so unbarmherz­igen, ja erbarmungs­losen Welt. Heilsam ist die Barmherzig­keit für beide: für denjenigen, der sie erfährt und für denjenigen, der sie übt.

LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: ANDREAS KREBS Schwester Philippa Rath in der Bibliothek von Kloster St. Hildegard.

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