Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Aus Nächstenliebe zum Sport
ESSAY Hochleistungssportler haben eine Verantwortung. Für den fairen Wettkampf und wegen ihrer großen Ausstrahlung auch für eine bessere Welt. So passen Leistungssport und Nächstenliebe zusammen. Das meint auch US-Fußballstar Megan Rapinoe.
Megan Rapinoe (34) hat zweimal die Weltmeisterschaft gewonnen, sie ist Olympiasiegerin. Sie war die erfolgreichste Torschützin der WM in Frankreich, die Fifa-Kommission kürte sie zur besten Spielerin des Turniers. Und sie wurde in diesem Jahr ganz folgerichtig zur Weltfußballerin gewählt.
Aber Megan Rapinoe hat auch eine Botschaft, die nichts mit Toren, mit Pässen und mit Erfolgen zu tun hat. Im vielleicht typisch amerikanischen Sendungsbewusstsein und mit dem entsprechenden Pathos rief sie vom Podium in New York, auf dem sich ihre Nationalmannschaft für den WM-Titel feiern ließ: „Wir müssen besser sein. Wir müssen mehr lieben, weniger hassen. Es ist unsere Verantwortung, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“Eine erstaunliche Forderung. Das Wort Liebe bemühen Sportler, vor allem Berufssportler vielleicht dann, wenn sie ihr Verhältnis zum Verein, zu ihrem Sport und (ganz besonders in Deutschland viel seltener) zu ihrem Land beschreiben wollen. Einen Lebensauftrag leiten sie in der Regel nicht ab, die Nächstenliebe ist allenfalls eine private Angelegenheit.
Erst recht im Leistungssport. Hochleistungen, die extreme Konkurrenzsituation, ein Wettkampf um größtmöglichen Ruhm, um Geld und Anerkennung scheinen sich mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe nicht zu vertragen. Es sieht ganz so aus, als schlössen sich Nächstenliebe und Leistungssport von vornherein aus.
Auch Rapinoe hat in New York nicht über tätige Nächstenliebe in Ausübung ihres Sports gesprochen, oder soll man sagen: gepredigt. Mit der Aufforderung, „wir müssen mehr lieben“, hat sie sicher nicht gemeint, die Kollegin im Tor möge künftig ihren Arbeitsplatz kurz mal räumen, wenn eine der sonst so bemitleidenswert unterlegenen Gegnerinnen der amerikanischen Mannschaft aufs Tor geschossen hat. Sie wird keine bewusst erzielten Eigentore im Sinn haben oder den Verzicht auf Gegenwehr in einem Spiel. Denn das wäre der Verzicht auf den Sinn des sportlichen Wettkampfs. Der Hamburger Theologe Frank Martin Brunn hat das in seiner „Sportethik“fein auf den Punkt gebracht. „Es gehört zu der Verantwortung des Athleten, ernsthaft gewinnen zu wollen“, schreibt er.
Von Verantwortung sprach auch Rapinoe, die Kapitänin der US-Fußballmannschaft. Sie meint die Verantwortung derer, die als Sportstars auf der Sonnenseite stehen, beim Aufbau einer besseren Welt. Das ist ein großes Wort, ein hohes Ziel. Darunter tun es US-Amerikaner ungern. Und dafür fangen sie sich natürlich Widerworte ein. Der bekannte Kommentator Raymond Arroyo vom Sender Fox warf der Fußballerin vor, sie missbrauche sportliche Erfolge für politische Botschaften. „Du bist da, um einen Ball zu kicken. Schieß den Ball, besiege andere Teams, zeige deinen amerikanischen Geist. Das ist alles, was wir brauchen“, sagte er.
Falsch. Die Welt braucht mehr
Rapinoes, die sich und andere in die Verantwortung nehmen – gerade wenn sie den Ball besonders gut kicken, werfen oder fangen können. Denn ihnen hören viele zu. Der oft gerühmten Vorbildfunktion können Sportstars mit Auftritten wie dem von Rapinoe in New York gerecht werden. Und es darf sie überhaupt nicht stören, wenn ihnen vorgehalten wird, dass Reden die Welt noch nicht besser gemacht haben. Das ist im Übrigen so falsch wie die Behauptung, die Welt brauche keine Sportler, die mehr tun, als besonders gut zu kicken oder zu rennen. Reden können überzeugen und dabei helfen, ein Bewusstsein zu bilden. Das ist nämlich schon etwas, und es hat durchaus etwas mit Liebe zu tun – wenn auch in einem sehr weiten Sinn.
Rapinoe und der Theologe Brunn haben nicht zufällig den Begriff der Verantwortung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zum Zusammenhang von Sport und Liebe gestellt. Tatsächlich kann es im Leistungssport ja nicht um selbstverleugnende Nächstenliebe auf dem Platz und auf der Laufbahn gehen. Es geht, siehe oben, ums Gewinnen. Es geht aber auch um gegenseitige Achtung, um das Gebot der Fairness. Das hat mit Gerechtigkeit zu tun.
Dafür gibt sich der (Leistungs-) Sport Regeln, die (noch ein Ethiker) der Wissenschaftler Karl-Otto Apel „einschränkende Rahmenbedingungen für strategisches Konkurrenzverhalten der Menschen“nennt. Die Spielregeln geben der Auseinandersetzung ums Gewinnen eine Bahn, sie verhindern absichtliche Verletzungen des Gegners, weil sie mit bösen Folgen drohen können, sie sind der Katalog für einen respektvollen Umgang. Das ist natürlich noch immer keine Liebe im absoluten Sinn. Ganz sicher nicht, wenn es sich um Regeln in den Kampfsportarten handelt. Der Theologe Brunn stellt sich beispielsweise die Frage, „ob Boxen der christlichen Nächstenliebe widerspricht“. Und er beantwortet diese Frage auch: „Das ist deswegen nicht der Fall, weil die Gesundheitsgefährdungen auf Regeln beruhen, denen sich die Athleten freiwillig unterwerfen.“Damit ist selbstverständlich noch nicht gesagt, dass Evander Holyfield seinem Gegner Mike Tyson im Ring voller Liebe begegnete, nachdem dieser ihm ein Stück aus dem Ohr gebissen hatte.
Gerade in dieser direktesten Form von Auseinandersetzung, die der Leistungssport kennt, werden eher Spielarten des Hasses gepflegt als jene von gegenseitiger Zuneigung. Aber sie bleiben im sichernden Gehäuse der Regeln und deshalb tatsächlich nur gespielt. Tyson biss sich eben nicht zum Sieg. Er erfuhr eine erste Strafe im Ring. Außerhalb wurde er geächtet, was noch schwerer wiegt.
Wenn so etwas wie Nächstenliebe, wie sie Rapinoe für den gesellschaftlichen Umgang fordert, im Leistungssport lebt, dann in den Mannschaftssportarten – in der Achtung des jeweiligen Gegners, vor allem aber in der Verantwortung für die eigene Mannschaft und ihre Leistung. Früher hing in vielen Fußballkabinen der altväterliche Spruch: „Elf Freunde müsst ihr sein, wollt ihr den Sieg erringen.“Das begrenzt Freundschaft und (wenn man will) Nächstenliebe erstens auf den Kreis der Mannschaft, zweitens auf die Zeit des Spiels. In dieser Phase macht das gemeinsame Ziel aus elf Spielern eine echte Gemeinschaft.
Ob diese Gemeinschaft das Spiel überdauert und Teil des täglichen Miteinanders eines Profiteams werden kann, ist eine andere Frage. Die Konkurrenzsituation in den künstlichen Interessengemeinschaften des Berufsfußballs, in denen es in der Woche um Stammplätze am Wochenende, um damit verbundene Prämien und damit schlicht um Geld geht, macht das Wort von der
Nächstenliebe zu einem seltsamen Begriff. Erst recht schwierig wird es in der Abgrenzung zu den Mitbewerbern um Siege, Tabellenplätze und Titel. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière begab sich 2013 auf den ganz harten Weg, als er über Förderung von Athleten in den olympischen Sportarten sprach. „Wir tun das nicht aus Nächstenliebe“, sagte er, „wir reden hier über Leistungssport. Das heißt: Wir wollen auch Leistungen sehen.“Das würde Megan Rapinoe vermutlich ebenfalls unterschreiben. Sie würde zu den Leistungen allerdings auch die tätige Verantwortung für den Rest der Welt zählen. Schneller laufen als die Abwehrspielerinnen wird sie dennoch. Sie wird es zumindest versuchen. So viel Liebe zum Wesen des Sports muss ja auch sein.