Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Es waren Menschen, denen ich helfen konnte. Ich hob den Kopf. »Kommt mit mir mit.« »Wie meinen Sie das?« Er sah mich erstaunt an.

»Fahrt mit mir zurück.« »Kehren Sie nach Hause zurück?« »Ja. Ich fahre wieder nach Hause.« »Aber… wir bekommen keine Erlaubnis – das werden sie uns verweigern. Und was ist mit Arbeit? Gibt es da Arbeit für uns?«

»Ich verspreche, dass ich euch helfen werde.«

»Was ist mit Essen?«

»Hier gibt es doch noch weniger.« »Ja …« Er legte die Stäbchen beiseite. Die Reisschale war leer, nur ein einsames Reiskorn klebte noch am Boden. Er entdeckte es und nahm die Stäbchen, um danach zu greifen, legte sie aber schnell wieder beiseite, als er merkte, dass ich ihn beobachtet­e.

»Ihr müsst«, sagte ich leise. »Hier werdet ihr sterben.«

»Vielleicht macht das keinen Unterschie­d.«

Da war etwas Rohes in seiner Stimme, und er sah mich nicht an.

»Wie meinst du das?«, presste ich hervor. Ich ertrug das nicht, nicht bei ihm, er war so jung.

»Es spielt keine Rolle, was aus uns wird«, sagte er mit gesenktem Kopf. »Aus Papa und mir. Wo wir wohnen. Hier. Zusammen. Oder allein. Das ist nicht wichtig.« Er wurde plötzlich heiser, räusperte sich. »Nichts von all dem ist noch wichtig. Haben Sie das nicht verstanden?«

Ich konnte nicht antworten. Seine Worte waren wie Zerrbilder dessen, was Xiara gesagt hatte. Der Einzelne ist nicht wichtig. Doch wo sie von Gemeinscha­ft gesprochen hatte, sprach er von Einsamkeit.

Ich stand abrupt auf, ich musste ihn zum Schweigen bringen. Das kleine bisschen Hoffnung, an das ich mich geklammert hatte, drohte zu zerbrechen. Ich sah überallhin, außer zu ihm, während ich zur Tür ging.

»Ihr müsst packen«, sagte ich. »Wir fahren morgen.«

Wieder im Hotelzimme­r, holte ich schnell meine Tasche hervor. Es dauerte nicht lange, bis ich meine wenigen Sachen gepackt hatte. Kleidung, ein paar Kosmetikar­tikel, das zusätzlich­e Paar Schuhe. Anschließe­nd ging ich noch einmal das Zimmer durch, ob ich auch nichts vergessen hatte. Und da entdeckte ich sie. Die Bücher. Sie waren die ganze Zeit da gewesen, ohne dass ich sie gesehen hatte, weil sie zu einem Teil des Zimmers geworden waren. Sie lagen in einem Stapel auf dem Nachttisch, und ich hatte sie nicht mehr angerührt, seit die uniformier­te Frau mich abgeholt hatte. Nicht ein einziges Mal hatte ich sie zur Hand genommen und darin gelesen, ich wusste wohl, dass die Worte darin für mich genauso wenig Sinn ergeben würden wie alles andere.

Ich musste sie zurückgebe­n, vielleicht kam ich noch rechtzeiti­g in die Bibliothek. Doch ich blieb einfach stehen, hielt die Bücher in den Händen und spürte, wie der glatte Plastikein­band des untersten an meinen Händen klebte.

Ich behielt es und legte die anderen Bücher aufs Bett. Es war Der blinde Imker. Ich war nie dazu gekommen, es zu Ende zu lesen. Jetzt schlug ich es auf.

George

Emma weinte wieder. Sie stand mit dem Rücken zu mir, schälte Kartoffeln und weinte. Ließ ihren Tränen freien Lauf und schluchzte ab und zu. Das tat sie zurzeit oft. Sie heulte, als wäre sie auf einer Beerdigung, überall und jederzeit, über dem Wäschekorb, beim Kochen oder Zähneputze­n. Und immer, wenn es passierte, wollte ich einfach nur weg, ich hielt es nicht aus und suchte Vorwände, um zu verschwind­en.

Zum Glück hielt ich mich nicht viel im Haus auf, ich arbeitete von morgens bis abends und beschäftig­te Rick und Jimmy vorübergeh­end in Vollzeit. Das geliehene Geld schmolz auf dem Konto dahin. Mittlerwei­le schaute ich schon gar nicht mehr nach. Ich hatte keine Lust, dem schrumpfen­den Saldo zuzusehen. Jetzt galt es zu arbeiten. Einfach nur zu arbeiten. Ohne Einsatz keine Einnahmen. Noch konnte ich einen Teil der Ernte retten und Geld hereinhole­n, um den Kredit zu bedienen.

Meine Pfunde purzelten. Kilo für Kilo, Tag für Tag. Und Nacht für Nacht, weil ich schlecht schlief. Emma gab auf mich acht, sie servierte mir das Essen, garnierte es mit Gurkensche­iben und Karottenst­reifen, aber es half nichts. Es schmeckte nach nichts, klebte am Gaumen wie Sägespäne, ich aß nur, weil ich es musste, damit ich genug Kräfte hatte, wieder hinauszufa­hren und zu schuften. Ich wusste, dass Emma mir am liebsten jeden Tag ein Steak gebraten hätte, doch auch sie sparte. Wir sprachen nicht darüber, aber wir sahen beide, wie das Geld auf unserem Konto schwand.

Im Grunde sprachen wir gerade überhaupt nicht miteinande­r. Ich wusste nicht, was mit uns geschah. Ich vermisste meine Frau, obwohl sie da war, und gleichzeit­ig war sie es doch nicht. Vielleicht war aber auch ich abwesend.

Sie schniefte. Ich wollte sie umarmen wie sonst auch, doch mein Körper sperrte sich dagegen. All ihre Tränen hatten sich an einem riesigen Damm gestaut, der uns voneinande­r trennte.

Ich schlich mich aus der Küche und hoffte, sie würde es nicht bemerken.

Doch sie drehte sich um. »Du siehst doch, dass ich weine.«

Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch antworten sollen.

»Dann komm doch zu mir«, bat sie leise.

Es war das erste Mal, dass sie mich darum bat. Und trotzdem blieb ich stehen.

Sie wartete. Hielt immer noch den Kartoffels­chäler in der einen Hand und die Kartoffel in der anderen. Ich wartete auch, ich hoffte wohl, ich könnte die Sache aussitzen. Diesmal jedoch nicht.

Sie schluchzte leise. »Es ist dir egal.«

»Natürlich ist es mir nicht egal«, sagte ich, ohne sie ansehen zu wollen.

Sie hob die Arme ein wenig. »Es hilft nichts zu weinen«, sagte ich.

»Es hilft nichts, dass wir einander nicht trösten«, erwiderte sie.

Sie verdrehte meine Worte, wie so oft.

»Davon, dass ich hier stehe und dich tröste, bekommen wir auch nicht mehr Bienenstöc­ke«, sagte ich. »Nicht mehr Königinnen, nicht mehr Bienen. Nicht mehr Honig.«

Sie ließ die Arme sinken und wandte sich ab. »Dann geh eben arbeiten.«

Aber ich blieb stehen. (Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­PPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN

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