Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Sieben Briefan einen Gefallenen

An Heiligaben­d 1944 starb meinvater in Hitlers letzter Offensive an der Westfront. Bis meine Großer von seinem Tod erfuhr, hat sie ihm noch siebenmal geschrie75 Jahre lang hat diese Briefe niemand geöffnet. Expedition in deutsche Familienge­schichte.

- VON FRANK VOLLMER

Der 24. Dezember 1944 ist ein Sonntag. Heiligaben­d, für weite Teile des Kontinents bis heute der letzte in Kriegszeit­en. Meteorolog­isch ein freundlich­er Tag in Deutschlan­d. Und kalt im Osten: minus drei Grad in Berlin. Am Rhein dagegen Tauwetter: plus zwei Grad in Köln. Die BBC meldet, dass Bandleader Glenn Miller auf dem Flug von England nach Paris verscholle­n ist. Im Ärmelkanal vor Cherbourg versenkt das deutsche U-Boot U-486 den belgischen Truppentra­nsporter „Léopoldvil­le“. 800 Soldaten ertrinken.

Das Kriegstage­buch des Oberkomman­dos des Heeres notiert für den 24. Dezember 1944 schwere Kämpfe in Ungarn und in der Slowakei; sowjetisch­e Truppen stehen vor Budapest. Heftig gekämpft wird auch in Bosnien und bei Ravenna, ruhig ist es in Norwegen und Dänemark. Bomben fallen unter anderem auf Trier, Darmstadt und Worms. Für die Westfront, Luxemburg, Heeresgrup­pe B, 7. Armee, ist vermerkt: „Auf breiter Front setzte der Feind mit Infanterie- und Panzer-Kräften zum geschlosse­nen Angriff nach Nordosten an und konnte tiefe Einbrüche erzielen. Die schweren Kämpfe dauern fort.“

Am 24. Dezember, vermutlich vormittags, stirbt in diesen „schweren Kämpfen“bei Heidersche­id in Luxemburg mein Großvater, der Wehrmachts-Oberfeldwe­bel Gotthold Schillinge­r, genannt Hold oder Holde, 29 Jahre alt, 2. Panzer-Füsilier-Kompanie der „Führer-Grenadier-Brigade“, gelernter Metzger aus Weiler zum Stein bei Stuttgart, Berufssold­at seit 1937, durch den Volltreffe­r einer amerikanis­chen Panzerabwe­hrkanone. In den Akten steht: Er ist verbrannt. Dies ist die Geschichte von ihm und meiner Großmutter Josefine Kesselmeie­r, genannt Finchen, damals 31, Buchhalter­in aus Paderborn.

Mehrere Dutzend Briefe der beiden bewahren diese Geschichte. Sieben dieser Briefe hat 75 Jahre lang niemand gelesen. Für diesen Text haben wir sie wieder geöffnet. Es sind die Briefe, die meine Großmutter ihm nach dem 24. Dezember schrieb, bevor sie erfuhr, dass er gefallen war. Sie hat sie mit dem handschrif­tlichen Vermerk wiederbeko­mmen: „Zurück. Empfänger gefallen für Großdeutsc­hland“. Sieben Briefe an einen Toten.

Die Sache betrifft mich dreifach: als Journalist­en, als Historiker und als Enkel. Sie ist Geschichte im dreifachen

Sinn: eine Geschichte, Geschichte als Historie, meine Geschichte. Der Journalist erkennt in der Dramatik der Umstände „eine Geschichte“. Der Historiker versucht, durch Archivund Bibliothek­srecherche Lücken zu schließen; er rekonstrui­ert Geschichte. Dem Enkel, Jahrgang 1976, schnürt es die Kehle zu. Es ist ja seine Geschichte. Diese Briefe zeigen, warum es mich gibt – und wie unwahrsche­inlich das war.

Die familiäre Quellenlag­e ist zwiespälti­g. Es liegen vor: 56 Briefe und Karten meiner Großmutter an meinen Großvater, nur ein kleiner Teil dessen, was sie tatsächlic­h geschriebe­n hat; zehn Briefe weiterer Familienab­er mitglieder, – außer einigen Widmungsze­ilen auf der Rückseite von Fotos – nur zwei Karten und zwei BrieGroßva­ters fe meines an meine Großmutter. Die Karbelangl­ose ten sind weitgehend Grüße von unterwegs, ein Brief beschäftig­t sich mit allerlei Vorkehrung­en für die Hochzeit. Der zweite allerdings ist vermutlich auch sein letzter, vier Tage vor seinem Tod geschriebe­n auf dem Weg an die Front. Und ihre Briefe spiegeln seisie ne, indem antworten und Stimmungen aufArchivu­nterlagen nehmen. haben meine Kenntseine nisse über militärisc­he Laufbahn und die Umstände seines Todes vervollstä­ndigt – und zutage gefördert, dass er am 1. Mai 1933, mit gerade 18 Jahren, in die NSDAP eintrat. Mitgliedsn­ummer 2925568.

Finchen und Hold also. Die Freiheit des öffentlich­en Duzens nehme ich mir als Enkel. Ich kann nicht rekonstrui­eren, wie sich die beigetroff­en den haben, wohl aber, wo und wann: am Freitag, 29. Januar 1943 im Standortla­zarett Paderborn. In Finchens Taschenkal­ender steht für diesen Tag: „Heut sah ich meinen Hold zum ersten Mal.“Der ist drei Tage vorher mit dem Lazarettzu­g 1134 gekommen – „Schussbruc­h rechter Oberschenk­el“vermerkt die Krankenakt­e, „Nierenentz­ündung, Sehnensche­idenentzün­dung, schlechtes Gebiss“.

Es ist seine vierte Verwundung, die erste schwere, von Ende November 1942. Da ist seine Infanterie-Division „Großdeutsc­hland“bei Rschew in Russland eingesetzt. Ein ganzes Jahr lang wird dort, 200 Kilometer westlich von Moskau, gekämpft und gestorben. Drei Verwundung­en zuvor, alle an der Ostfront (linker Arm, rechter Arm, rechtes Schienbein), musste er an der Front auskuriere­n. Die dritte bringt ihn erst ins Lazarett ins besetzte Polen, dann für gut acht Monate nach Paderborn.

Die erhaltenen Briefe setzen danach ein, im November 1943; Hold ist jetzt in Cottbus, beim Infanterie-Ersatz-Regiment „Großdeutsc­hland“, zwischendu­rch 1944 auch in Dänemark. Ein Kasernenjo­b, weit weg von der Front. Die grammatisc­he Form der Beziehung der beiden ist das Futur: gegenseiti­ge Bestärkung­en darüber, was nach dem Krieg kommt. „Diese schöne Zeit, die wir hier verlebten, wird sich doch wiederhole­n, und einmal wird es so weit sein, dass es immer so sein kann“, schreibt Finchen. Heiratsplä­ne gibt es Ende 1943 schon: „Mein Mann, kann ich dann sagen. Das ist so seltsam schön. Du bist doch nun mein Bräutigam und schon mein halber Herr. Du weißt ja, der Herr, aber nicht der Herrscher.“Geheiratet wird schließlic­h am 20. August 1944, mit einer Lebensmitt­el-Sonderzula­ge für zwölf Personen des Paderborne­r Ernährungs­amts.

Die kurzen Zeiten zu zweit sind kostbar, wie in jeder Fernbezieh­ung, und deshalb anfällig für überspannt­e Erwartunge­n. Finchen und Hold treffen sich in Cottbus, in Paderborn und bei den Schillinge­rs in Bad Cannstatt und Weiler; bei einem der letzten Treffen scheint es Streit gegeben zu haben, was nach dem Abschied zu bitteren Selbstankl­agen führt. Finchens Umzug nach Cottbus zerschlägt sich ebenso wie Holds Versetzung ins Rheinland. Vor allem aber spricht aus den Briefen: Erfüllung, Freude, Liebe – häufig freilich gemischt mit der Sorge, so könne es doch nicht bleiben: „Wir haben uns kennenlern­en müssen. Ich denke immer, das Glück ist zu groß. Ich fürchte, dass wir

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Das Hochzeitsf­oto: Paderborn, August 1944.
 ??  ?? Oberfeldwe­bel Schillinge­r (r.) mit Soldaten beim Marsch durch Kopenhagen, vermutlich Sommer 1944.
Oberfeldwe­bel Schillinge­r (r.) mit Soldaten beim Marsch durch Kopenhagen, vermutlich Sommer 1944.
 ??  ?? Holds letzter erhaltener Brief, geschriebe­n am 20. Dezember auf dem Weg an die Front.
Holds letzter erhaltener Brief, geschriebe­n am 20. Dezember auf dem Weg an die Front.
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„Heut sah ich meinen Hold zum ersten Mal“: Finchens Taschenkal­ender von 1943.
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Die Hochzeitsa­nzeige.
 ??  ?? Das Hochzeitsp­aar vor der Kirche.
Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, Verwundete­nabzeichen in Silber: Holds Auszeichnu­ngen, hier als „Zivilnadel“etwa fürs Knopfloch des Anzugs.
Das Hochzeitsp­aar vor der Kirche. Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, Verwundete­nabzeichen in Silber: Holds Auszeichnu­ngen, hier als „Zivilnadel“etwa fürs Knopfloch des Anzugs.
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 ??  ?? Hold im Einsatz, undatierte­s Foto.
Hold im Einsatz, undatierte­s Foto.
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