Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Neue Heimat
Wo sind wir zu Hause? Nicht mehr automatisch nur da, wo wir geboren wurden. Der Heimatbegriff wandelt sich, weil die Gesellschaft immer mobiler wird. Daraus wollen die Rechten Kapital schlagen. Zum Beispiel bei den Schützen.
Am Freitag vor dem ersten Advent hatte Benigna Munsi ihren großen Auftritt. Die 17-jährige Nürnberger Gymnasiastin durfte den traditionellen Prolog sprechen, mit dem der Christkindlesmarkt eröffnet wird. Munsi war Ende Oktober von einer Jury in ihr Amt gewählt worden. Das wäre reine Brauchtumsroutine, hätte sich nicht die AfD des Falls angenommen. Deren Kreisverband München-Land schrieb kurz nach Munsis Wahl auf Facebook: „Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen.“
Um die Niedertracht dieses Satzes zu verstehen, muss man wissen, dass Benigna Munsis Vater aus Indien stammt; seine Tochter hat leicht dunklen Teint und braune Haare. Der Subtext des AfD-Satzes ist klar: Bald leben wir in Reservaten, und die anderen, die Eindringlinge, gebieten über unser Land.
War doch nur ein Kreisverband, mag man einwenden. Aber dessen Argumentation ist symptomatisch für den Heimatbegriff, den rechte Kreise zu etablieren versuchen: Heimat ist in diesem Sinn eine begrenzte Ressource, wie Öl oder wie ein Laib Brot. Der kann noch so groß sein – verteilt man ihn auf vier Personen, bekommt jeder mehr, als wenn man ihn auf fünf Personen verteilt. Das ist Mathematik. Ein Nullsummenspiel.
Mit der Heimat ist es in diesem Weltbild genauso: Für alle reicht es nicht. „Wer unsere Heimat erhalten will, wählt die AfD“, plakatierte Landeschef Andreas Kalbitz in Brandenburg. Und die Einrichtung, die AfD-Mandatsträger berät, nennt sich dort „Kommunalpolitischer Heimatverein“, obwohl in der Satzung das Wort „Heimat“außer bei der Namensfestlegung nicht vorkommt.
Schon das könnte nahelegen, dass der rechte Heimatbegriff irgendwie hohl ist. Aber ein Denkfehler kommt hinzu. Heimat ist nicht wie ein Laib Brot. Heimat ist wie ein Hermann. Der Sauerteig Hermann
war mal schwer in Mode. Hermann wurde regelmäßig mit guten Sachen wie Milch und Mehl gefüttert, dann geteilt, verschenkt oder verbacken, mit dem letzten Teil fing man von vorn an.
Politisch bedeutet das: Heimat ist etwas, das arbeitet und aktiv ist, wenn man etwas zu investieren bereit ist, das man teilen kann, ohne dass es am Ende weniger wird, kein fertiges Produkt, sondern stets im Werden. Heimat ist veränderbar und verändert sich, durch Versetzungen, neue Interessen, neue Freunde. Heimat ist Produkt, nicht Schicksal.
Beispiele gibt es reichlich. Die Menschen ziehen öfter um als früher. Selbst ein Wechsel der Konfession oder ein Kirchenaustritt, also ein geistlicher Um- oder Auszug, ist gang und gäbe geworden. Von einer „unerhörten Dynamisierung unserer Weltbeziehung“spricht der Soziologe Hartmut Rosa. Er stellt allerdings auch fest, ein „emphatischer“, also im Zweifelsfall emotionaler, vielleicht auch nostalgischer Heimatbegriff habe erst so entstehen können: „Sofern Heimat die fraglose Gegebenheit unserer Weltbeziehung meint, ist sie für den modernen Menschen unerreichbar, und doch kann sie auch nur für ihn einen Sinn und einen Wert haben.“Heimat ist für Rosa eine „überaus paradoxe Idee“.
Heimat(en) aber, also Milieus, in denen man der „fraglosen Gegebenheit“zumindest ein Stück näherkommt, gibt es weiter. Und es muss ja auch so sein. Alle Lebenserfahrung spricht dafür. Trü- ge jeder und jede ausschließlich seine Heimat, in die er geboren wurde, wie einen unveränderbaren Buckel mit sich herum, dann wäre die Gesellschaft bald atomisiert, die Entfremdung total.
Ist sie aber nicht. Viel individualistischer ist das Land geworden, zweifellos. Aber Heimat, die immer eine kollektive Seite hat, wächst täglich an vielen Orten neu: bei der Feuerwehr, im Sportverein, bei den Schützen. Die politische Debatte betrifft „heimatnahe“Institutionen besonders. Der Deutsche Feuerwehrverband ist tief zerstritten über den
„Heimat war bei uns lange einfach zu selbstverständlich“
Emil Vogt Bundesschützenmeister
Umgang mit der AfD; der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften (BHDS) als Dachverband katholischer Schützenvereine, der neben Glaube und Sitte die Heimat im Motto führt, sieht sich mit Avancen derselben Partei konfrontiert – etwa über ein Flugblatt, das Schützenbrüder in ihrer E-Mail fanden. Darin kritisierte die Partei die geplante Verschärfung des Feuerwaffenrechts, unter anderem mit dem Satz: „Sportschützen, Jäger, Waffensammler und sonstige Legalwaffenbesitzer stehen für die deutsche Schützentradition, für das regionale Brauchtum und bewahren das heimatliche und historische Erbe.“
Beim BHDS war man zwar auch gegen die Verschärfung, die AfD aber sieht man als falschen Freund. Öffentlich verwahrte sich der Bund „gegen den Versuch der Vereinnahmung“. Bundesschützenmeister Emil Vogt zeigt sich selbstkritisch: „,Heimat‘ war auch bei uns lange einfach zu selbstverständlich. Wir haben uns darauf verlassen, dass unsere Feste schon reichen werden, um unseren Heimatbegriff bei den Menschen zu verankern. Das ist nicht gelungen.“Man habe etwa – Rosa und die Dynamisierung lassen grüßen – Neuzugezogenen zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet: „Dass jetzt Populisten und Nationalisten diesen Heimatbegriff für sich auszuschlachten versuchen, zeigt auch unser Versäumnis.“Vogt zieht daraus weitreichende Konsequenzen: „Der BHDS sollte ernsthaft darüber nachdenken, eine Mitgliedschaft in der AfD für unvereinbar mit unseren christlichen Werten zu erklären.“Der Präsident von Eintracht Frankfurt, Peter Fischer, hatte 2017 mit ähnlichen Aussagen zu seinem Klub mittleren Aufruhr ausgelöst. Der ist bei den Schützen bisher ausgeblieben.
Es geht also nicht nur darum, ob genug Heimat für alle da ist, sondern auch darum, ob man denen, die anderen diese Heimat verweigern wollen, selbst die Tür weisen darf. Für viele Vereine und ihre Mitglieder dürfte ein doppeltes Ja eine Frage der Selbstachtung sein.
Der Prolog, den das Christkind Benigna Munsi zu sprechen hatte, endet übrigens mit dem Satz: „... und wer da kommt, der soll willkommen sein.“