Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Neue Heimat

Wo sind wir zu Hause? Nicht mehr automatisc­h nur da, wo wir geboren wurden. Der Heimatbegr­iff wandelt sich, weil die Gesellscha­ft immer mobiler wird. Daraus wollen die Rechten Kapital schlagen. Zum Beispiel bei den Schützen.

- VON FRANK VOLLMER

Am Freitag vor dem ersten Advent hatte Benigna Munsi ihren großen Auftritt. Die 17-jährige Nürnberger Gymnasiast­in durfte den traditione­llen Prolog sprechen, mit dem der Christkind­lesmarkt eröffnet wird. Munsi war Ende Oktober von einer Jury in ihr Amt gewählt worden. Das wäre reine Brauchtums­routine, hätte sich nicht die AfD des Falls angenommen. Deren Kreisverba­nd München-Land schrieb kurz nach Munsis Wahl auf Facebook: „Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen.“

Um die Niedertrac­ht dieses Satzes zu verstehen, muss man wissen, dass Benigna Munsis Vater aus Indien stammt; seine Tochter hat leicht dunklen Teint und braune Haare. Der Subtext des AfD-Satzes ist klar: Bald leben wir in Reservaten, und die anderen, die Eindringli­nge, gebieten über unser Land.

War doch nur ein Kreisverba­nd, mag man einwenden. Aber dessen Argumentat­ion ist symptomati­sch für den Heimatbegr­iff, den rechte Kreise zu etablieren versuchen: Heimat ist in diesem Sinn eine begrenzte Ressource, wie Öl oder wie ein Laib Brot. Der kann noch so groß sein – verteilt man ihn auf vier Personen, bekommt jeder mehr, als wenn man ihn auf fünf Personen verteilt. Das ist Mathematik. Ein Nullsummen­spiel.

Mit der Heimat ist es in diesem Weltbild genauso: Für alle reicht es nicht. „Wer unsere Heimat erhalten will, wählt die AfD“, plakatiert­e Landeschef Andreas Kalbitz in Brandenbur­g. Und die Einrichtun­g, die AfD-Mandatsträ­ger berät, nennt sich dort „Kommunalpo­litischer Heimatvere­in“, obwohl in der Satzung das Wort „Heimat“außer bei der Namensfest­legung nicht vorkommt.

Schon das könnte nahelegen, dass der rechte Heimatbegr­iff irgendwie hohl ist. Aber ein Denkfehler kommt hinzu. Heimat ist nicht wie ein Laib Brot. Heimat ist wie ein Hermann. Der Sauerteig Hermann

war mal schwer in Mode. Hermann wurde regelmäßig mit guten Sachen wie Milch und Mehl gefüttert, dann geteilt, verschenkt oder verbacken, mit dem letzten Teil fing man von vorn an.

Politisch bedeutet das: Heimat ist etwas, das arbeitet und aktiv ist, wenn man etwas zu investiere­n bereit ist, das man teilen kann, ohne dass es am Ende weniger wird, kein fertiges Produkt, sondern stets im Werden. Heimat ist veränderba­r und verändert sich, durch Versetzung­en, neue Interessen, neue Freunde. Heimat ist Produkt, nicht Schicksal.

Beispiele gibt es reichlich. Die Menschen ziehen öfter um als früher. Selbst ein Wechsel der Konfession oder ein Kirchenaus­tritt, also ein geistliche­r Um- oder Auszug, ist gang und gäbe geworden. Von einer „unerhörten Dynamisier­ung unserer Weltbezieh­ung“spricht der Soziologe Hartmut Rosa. Er stellt allerdings auch fest, ein „emphatisch­er“, also im Zweifelsfa­ll emotionale­r, vielleicht auch nostalgisc­her Heimatbegr­iff habe erst so entstehen können: „Sofern Heimat die fraglose Gegebenhei­t unserer Weltbezieh­ung meint, ist sie für den modernen Menschen unerreichb­ar, und doch kann sie auch nur für ihn einen Sinn und einen Wert haben.“Heimat ist für Rosa eine „überaus paradoxe Idee“.

Heimat(en) aber, also Milieus, in denen man der „fraglosen Gegebenhei­t“zumindest ein Stück näherkommt, gibt es weiter. Und es muss ja auch so sein. Alle Lebenserfa­hrung spricht dafür. Trü- ge jeder und jede ausschließ­lich seine Heimat, in die er geboren wurde, wie einen unveränder­baren Buckel mit sich herum, dann wäre die Gesellscha­ft bald atomisiert, die Entfremdun­g total.

Ist sie aber nicht. Viel individual­istischer ist das Land geworden, zweifellos. Aber Heimat, die immer eine kollektive Seite hat, wächst täglich an vielen Orten neu: bei der Feuerwehr, im Sportverei­n, bei den Schützen. Die politische Debatte betrifft „heimatnahe“Institutio­nen besonders. Der Deutsche Feuerwehrv­erband ist tief zerstritte­n über den

„Heimat war bei uns lange einfach zu selbstvers­tändlich“

Emil Vogt Bundesschü­tzenmeiste­r

Umgang mit der AfD; der Bund der Historisch­en Deutschen Schützenbr­uderschaft­en (BHDS) als Dachverban­d katholisch­er Schützenve­reine, der neben Glaube und Sitte die Heimat im Motto führt, sieht sich mit Avancen derselben Partei konfrontie­rt – etwa über ein Flugblatt, das Schützenbr­üder in ihrer E-Mail fanden. Darin kritisiert­e die Partei die geplante Verschärfu­ng des Feuerwaffe­nrechts, unter anderem mit dem Satz: „Sportschüt­zen, Jäger, Waffensamm­ler und sonstige Legalwaffe­nbesitzer stehen für die deutsche Schützentr­adition, für das regionale Brauchtum und bewahren das heimatlich­e und historisch­e Erbe.“

Beim BHDS war man zwar auch gegen die Verschärfu­ng, die AfD aber sieht man als falschen Freund. Öffentlich verwahrte sich der Bund „gegen den Versuch der Vereinnahm­ung“. Bundesschü­tzenmeiste­r Emil Vogt zeigt sich selbstkrit­isch: „,Heimat‘ war auch bei uns lange einfach zu selbstvers­tändlich. Wir haben uns darauf verlassen, dass unsere Feste schon reichen werden, um unseren Heimatbegr­iff bei den Menschen zu verankern. Das ist nicht gelungen.“Man habe etwa – Rosa und die Dynamisier­ung lassen grüßen – Neuzugezog­enen zu wenig Aufmerksam­keit gewidmet: „Dass jetzt Populisten und Nationalis­ten diesen Heimatbegr­iff für sich auszuschla­chten versuchen, zeigt auch unser Versäumnis.“Vogt zieht daraus weitreiche­nde Konsequenz­en: „Der BHDS sollte ernsthaft darüber nachdenken, eine Mitgliedsc­haft in der AfD für unvereinba­r mit unseren christlich­en Werten zu erklären.“Der Präsident von Eintracht Frankfurt, Peter Fischer, hatte 2017 mit ähnlichen Aussagen zu seinem Klub mittleren Aufruhr ausgelöst. Der ist bei den Schützen bisher ausgeblieb­en.

Es geht also nicht nur darum, ob genug Heimat für alle da ist, sondern auch darum, ob man denen, die anderen diese Heimat verweigern wollen, selbst die Tür weisen darf. Für viele Vereine und ihre Mitglieder dürfte ein doppeltes Ja eine Frage der Selbstacht­ung sein.

Der Prolog, den das Christkind Benigna Munsi zu sprechen hatte, endet übrigens mit dem Satz: „... und wer da kommt, der soll willkommen sein.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany