Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Hauptherkunftsland: Deutschland
Bereits 100.000 Asylanträge kamen von Flüchtlingskindern, die hier geboren wurden. Inzwischen ist es jeder vierte bis fünfte Antrag.
BERLIN Zum Hauptherkunftsland aller Flüchtlinge, die in Deutschland erstmals Asyl beantragen, hat sich ein ganz besonderes Land entwickelt: Deutschland. Kamen 2016 nur 1,2 Prozent aller Anträge auf Schutz von neugeborenen Kindern gerade in Deutschland angekommener Flüchtlinge, waren es im letzten Jahr bereits 19,9 Prozent. In den ersten elf Monaten dieses Jahres ist ihr Anteil noch einmal gestiegen: auf 22 Prozent. Damit hat ihre Gesamtzahl seit 2012 die Schwelle von 100.000 überstiegen. Genau 100.099 Kinder genießen Schutz, obwohl oder weil sie in einem der sichersten Länder der Welt geboren wurden.
Der Anteil im kleinen einstelligen Prozentbereich aller Erstantragsteller ließ das Schicksal der hier zur Welt gekommenen Flüchtlingskinder bis 2017 nicht zu den wichtigsten Aspekten zählen. Inzwischen ist die Geburtenrate derart explodiert, dass das Innenministerium bereits damit begonnen hat, die Migrationsstatistiken zu überarbeiten. Um den politischen Vorsatz im Blick behalten zu können, pro Jahr möglichst nicht mehr als 180.000 bis 220.000 Flüchtlinge ins Land zu lassen, ist das Ministerium von Horst Seehofer inzwischen dazu übergegangen, die Asylanträge aufzuteilen. Zwar seien in diesem Jahr bis Ende November 133.324 förmliche Asylerstanträge gestellt worden und somit 18.620 weniger als im Vorjahreszeitraum. Die eigentlich relevanten „grenzüberschreitenden“Asylanträge beliefen sich danach lediglich auf 103.999. Die beträchtliche Differenz machen jene 29.325 Babys aus, die erst nach der Ankunft ihrer Eltern geboren wurden.
Diese 29.325 Kleinstkinder sind keine Deutschen, obwohl sie in Deutschland geboren wurden. Sie sind Syrer, wenn ihre Eltern aus Syrien kamen, sie sind Afghanen, wenn ihre Eltern aus Afghanistan kamen. Und sie sind Eritreer, wenn ihre Eltern aus Eritrea kamen. Politische
Verfolgung oder Bürgerkrieg kennen sie aus dem Land ihrer engeren Herkunft und Geburt nicht, und doch durchlaufen sie wie ihre Eltern ein Asylverfahren. Sobald das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von der Geburt informiert wurde, gilt ein von ihnen ausgehender Asylantrag als gestellt. Die Sachbearbeiter begutachten ihre „Angaben“so, als wäre ihr mutmaßliches Schicksal deckungsgleich mit dem ihrer Eltern. Diese können jedoch im Namen ihrer Kinder für diese besondere Gründe zusätzlich angeben.
Die Behörden brauchten eine Weile, um sich auf den Babyboom bei Schutzsuchenden einzustellen. Bis Sommer 2017 behandelten die Ämter eine von zwei auf drei Personen angewachsene Flüchtlingsfamilie über viele Monate weiterhin als Paar: Sowohl bei Berechnung des nötigen Wohnraums als auch des Bedarfs an Essen und Kleidung wurde das Neugeborene so lange nicht berücksichtigt, wie nicht offiziell über seinen Aufenthaltstitel entschieden war. Das stellte das Arbeitsministerium erst mit einer „fachlichen Weisung“ab, so dass es seit Mitte Juli 2017 für Flüchtlingskinder ab Geburt Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch gibt.
Bereits im Jahr 2017 war der zuvor zwischen 1,2 und 2,7 Prozent aller Asylerstanträge schwankende Anteil von hier geborenen Flüchtlingskindern auf 6,5 Prozent hochgeschnellt. Dass er im Jahr darauf bereits jeden fünften Antrag betraf und sich jetzt weiter in Richtung eines Viertels aller Flüchtlinge bewegt, lässt in den Behörden die Motivforscher aktiv werden. Sie werden zunächst bei der Geburtenrate in den Hauptherkunftsländern fündig. Da gibt es verblüffende Parallelen. So waren im zweiten Quartal dieses Jahres 6,6 Prozent aller Anträge von Iranern die von hier geborenen Kindern. Bei Irakern waren es 21,3 Prozent. Also dreimal so viele. Die Geburtenrate pro Frau ist in den Herkunftsländern ähnlich: irakische Frauen bekommen im Schnitt 4,6 Kinder, iranische Frauen 1,6. Hohe Anteile hier geborener Kinder weisen auch Nigerianer und Somalier auf. In beiden Ländern bekommen die Frauen im Schnitt über fünf Kinder.
Jeder dritte Erstantrag eines Syrers kam von einem hier geborenen Kind. Damit liegen sie an der Spitze und scheinen eine vermutete andere Motivation zu entkräften. Die lief darauf hinaus, dass Flüchtlinge auch deshalb in Deutschland immer mehr Kinder bekommen könnten,
weil nur sehr wenige Familien mit Neugeborenen abgeschoben werden. Sollte dahinter die Annahme stecken, mit einer Schwangerschaft die individuellen Bleibeperspektiven zu verbessern, so gilt das derzeit jedenfalls nicht für Syrer. Für sie gibt es seit dem Bürgerkrieg ohnehin einen Abschiebestopp. Zur aktuellen Geburtenrate in Syrien gibt es wenige verlässliche Angaben. Vor dem Bürgerkrieg lag sie jedenfalls bei drei Kindern je Frau. Und in Sicherheit in Deutschland liegt der Anteil der Anträge von hier geborenen Syrern inzwischen bei genau einem Drittel.
Deutschland als Schutzzone hat für viele junge Flüchtlinge also sehr viel mit persönlicher Zukunft zu tun.