Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das unterirdis­che Helsinki

Platz an der Oberfläche ist auch in der finnischen Hauptstadt knapp. Deswegen baut man dort kurzerhand in die Tiefe: Kirche, Schwimmbad, Museum. Im Ernstfall können dort unten 700.000 Einwohner Schutz finden.

- VON ANDRÉ ANWAR

HELSINKI Jede Großstadt hat ihre Undergroun­d-Szene. Im Falle Helsinkis ist das allerdings auch wörtlich zu verstehen. Nicht nur an den Rändern und nach oben wächst die 650.000 Einwohner zählende Hauptstadt Finnlands – sie gräbt, sprengt und baut sich auch tief in die Erde. Im Grunde kann man dort, in der bereits rund 13 Millionen Quadratmet­er großen, bis zu 100 Metern unter der Erde liegenden, bis zu vier Stockwerke zählenden Schattenst­adt von Helsinki, schon jetzt ein ganzes Leben ohne Sonnenlich­t verbringen.

Der Kern entstand im Kalten Krieg, vor allem in den 70er und 80er Jahren. Weil jeder Finne im Kriegsoder Krisenfall bis heute ein gesetzlich­es Anrecht auf einen Platz im Luftschutz­bunker hat, kann das unterirdis­che Helsinki gegenwärti­g bis zu 700.000 Menschen über einen längeren Zeitraum Schutz und Versorgung bieten. 2011 verabschie­dete die Stadt dann einen Masterplan zum Ausbau des gesamten Untergrund­raums. Gebaut wird mit staatliche­n und privaten Mitteln.

Schon 1969 wurde die Temppeliau­kion Kirkko, die Tempelplat­zkirche, als eines der ersten Gebäude in die Erde gebaut. Eine Kirche ohne Kirchturm, dafür aber mit höhlenarti­gen Granitwänd­en. Inzwischen gibt es unter Helsinkis Erde rund 400

Einrichtun­gen. So liegen dort die im Kriegsfall besonders schützensw­erten Energie-, Fernwärme- und Kühlungsan­lagen. Die nationalen Archive, Rechenzent­ren und ein See mit 35 Millionen Litern Kühl- und Trinkwasse­r finden sich ebenfalls dort unten. Auch die EU-Chemikalie­nbehörde hat sich inzwischen ein Stück Untergrund gesichert.

Für die Bürger gibt es Einkaufsst­raßen mit Geschäften aller Art und Transportw­egen für Warenlastw­agen, ein Fitnessstu­dio, eine Konzerthal­le, Saunen sowie eine Halle für den Nationalsp­ort Eishockey. Auch das Amos-Rex-Museum für moderne Kunst, das keinen Platz mehr in seinem überirdisc­hen Altbau fand, liegt nun im Schattenre­ich. Sogar die Entsorgung überirdisc­hen Mülls geschieht unterirdis­ch. Durch Klappen an der Oberfläche und Tunnel wird er ähnlich wie bei einer Flugzeugto­ilette in die Tiefe gesaugt.

Es gibt kilometerl­ange, mit Plastikpfl­anzen oder Kunst dekorierte Fußgängerw­ege, die praktisch durch die Stadt führen. „Demnächst kommen auch Fahrradweg­e“, sagt Ilkka Vähäaho, Chef des städtische­n Grundamts. Psychologe­n haben mit Architekte­n Beleuchtun­gen installier­t, die an Sonnenlich­t erinnern sollen. Strategisc­h wichtige Orte wie der Flughafen und Regierungs­behörden sind unterirdis­ch zu erreichen. Die U-Bahnstatio­nen sind besonders groß und tief, damit sie im Notfall als Bunker dienen können.

Von oben gibt es überall Zugänge. Im Itäkeskus-Viertel etwa führt ein langer Gang in ein unterirdis­ches Schwimmbad. Der ehemalige Atombunker verfügt noch immer über meterdicke Doppeltüre­n und kann innerhalb von 72 Stunden in einen Schutzraum für 3800 Menschen zurückverw­andelt werden. An der Schwimmbad-Kasse sitzt Tarja. Ob ihr nicht manchmal das Sonnenlich­t fehlt? „Ja, schon“, sagt die 57-Jährige nachdenkli­ch. „Aber wissen Sie, in Finnland gibt es das halbe Jahr über eh nicht so viel Licht, es ist ungastlich auf den Straßen, mit dreckigem Schnee, Glatteis und eisigem Wind. Und im Sommer ist es schön kühl hier in den Tunneln.“

Im Sommerurla­ub achte sie aber schon darauf, Sonne zu tanken, sagt die Kartenverk­äuferin. In Zukunft soll es sogar ein Großstadio­n für Eishockeys­piele und andere Großverans­taltungen in der Tiefe geben, zudem neue Strecken und Stationen für die nationale Bahn, die durch einen 100 Kilometer langen Meerestunn­el bis nach Estland fahren soll.

Das neutrale, also nicht unter dem Schutz der Nato stehende Finnland fährt auch wegen seiner konfliktre­ichen Geschichte eine grundsätzl­ich vorsichtig­e Sicherheit­spolitik. Das Land hat viele Kriege und lange Fremdherrs­chaft erlebt, etwa durch Schweden und Russland. Viele Finnen fühlen sich in der jüngsten Vergangenh­eit vom wieder aggressive­ren Ton Moskaus beunruhigt.

Aber ist der Ausbau unter der Erde überhaupt sinnvoll? Das Land gehört mit 16,3 Einwohnern pro Quadratkil­ometer zu den am dünnsten besiedelte­n der Welt. Auch Helsinki ist mit 2787 Einwohnern pro Quadratkil­ometer weniger dicht besiedelt als etwa Berlin (4087). Warum also das Ganze? Außer dem Wetter und der Sicherheit­spolitik machen die Stadtplane­r noch einen weiteren Grund geltend: Energieers­parnis. „Helsinki steht auf uraltem Granitgest­ein. Das ist sehr stabil und lässt sich relativ kostengüns­tig und gezielt aushöhlen“, sagt Vähäaho. Einmal auf eine bestimmte Temperatur gebracht, wirkt das Gestein auch isolierend; hinzu kommt die Erdwärme, die Heiz- und Kühlkosten niedrig hält. Die Decken, etwa in der Schwimmhal­le, sind größtentei­ls naturbelas­sen, in rauem Granit.

Helsinkis Bevölkerun­g wächst zudem deutlich schneller als die von Berlin. Der Ausbau der Unterwelt verschafft den Stadtplane­rn deshalb etwas Luft. „Wir Finnen sind weitläufig­e Flächen ohne viel menschlich­es Gedränge gewöhnt. Die meisten in Helsinki kommen aus kleinen Orten auf dem Land. Unterirdis­che Gebäude lassen mehr Raum für Grünanlage­n in der Stadt selbst“, sagt Vähäaho: „Geschäfte und vieles andere, was wir heute noch überirdisc­h bauen, brauchen wir dort eigentlich nicht.“

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FOTOS: STADT HELSINKI Eins der ersten unterirdis­chen Gebäude war 1969 die Tempelplat­z-Kirche. Heute ist sie eine der großen Touristena­ttraktione­n Helsinkis.
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Dieses Schwimmbad war einmal ein Atombunker. Im Ernstfall kann es wieder zum Schutzraum umfunktion­iert werden.

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