Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Sprüche für ein ganzes Jahr

Viele Menschen haben sich für 2020 einen Kalender mit berühmten Zitaten besorgt. Für die einen sind diese Sprüche geistiges Grundrausc­hen. Andere werden tatsächlic­h nachdenkli­ch.

- VON WOLFRAM GOERTZ

eute Morgen mache ich einmal „Ratsch“, und schon ist Leonard Cohen weg. Der hatte gestern den weisen Satz eines Liedermach­ers zum Besten gegeben: „Wenn ich wüsste, woher die guten Songs kommen, würde ich dort öfter mal hingehen.“

Heute tritt Novalis auf, der eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg hieß und als literarisc­her Philosoph der Frühromant­ik gilt. Er hinterließ mir einen anderen Spruch, gedruckt auf dünnem Papier in der Größe elf mal elf Zentimeter: „Ist die Seele ruhig, so wird auch der Körper bald beruhigt.“

Am Montag macht es wieder „Ratsch“, dann meldet sich der unermüdlic­he Bonmot-Spender Albert Einstein („Ich denke niemals an die Zukunft. Sie kommt früh genug.“)

Über den Spruch des Novalis kann ich jetzt 48 Stunden nachdenken, wenn ich das will, denn in meinem Abreißkale­nder gilt ein Spruch immer für das ganze Wochenende. Im vergangene­n Jahr habe ich also knapp 300 Sprüche konsumiert, habe gelächelt, mit den Augen gerollt, habe dann und wann ein wenig sinniert – und in einigen Fällen hat mich so ein Kalendersp­ruch eines berühmten Kopfes ernstlich zum Nachdenken gebracht.

Normalerwe­ise verspürt der Mensch ja wenig Neigung, sich von Weisheiten echter oder angebliche­r Respektabi­litäten in seine Befindlich­keit reinreden zu lassen. Anderersei­ts sind solche kalendaris­chen Sinnsprüch­e in der Summe möglicherw­eise doch effektiv – nicht als vorgehalte­ne Pistole, die einen zur sofortigen Kurskorrek­tur nötigt, sondern als langsam einträufel­nde und nachhaltig­e Essenz, die sanfte Formen der Veränderun­g bewirkt. Viele Menschen vertrauen solchen Kalendern, sie haben dann daheim oder im Kollegenkr­eis ein Gesprächst­hema, aus dem sich ebenfalls vielleicht etwas Gutes saugen lässt – oder das zum Spott taugt.

Für das Jahr 2020 möchte ich den Zitate-Overkill ein wenig modifizier­en, jetzt kommt – ich werde einen Nagel benötigen – der Wandkalend­er „Kleine Ruhepausen“aus dem Harenberg-Verlag zur Geltung. Hierbei handelt es sich um einen Wochenkale­nder zum Umklappen, welcher mir jedes Zitat eine Woche lang hinhält wie einen Wurstzipfe­l. Wahrschein­lich wird mir das neuropsych­ologische Phänomen der Habituieru­ng widerfahre­n: Gewöhnung durch wiederholt­e Darbietung eines Reizes. Vielleicht erlebe ich aber auch Intensivie­rung.

Dekoriert wird jeder Spruch, weil die „Ruhepause“offenbar optische Garnitur benötigt, durch ein Bild aus der beruhigten Natur: ein Baum, ein Sonnenunte­rgang, eine Düne am Meer, ein Gartenhäus­chen, eine Schale mit Erdbeeren, eine Hängematte, die Rosette der Kathedrale zu Palma de Mallorca. Alles, bloß kein Alltag.

Ich persönlich freue mich schon auf die zweite Juni-Woche. Dann bekomme ich zu lesen: „Dumme rennen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten.“Der Satz stammt von dem in Kalkutta geborenen Universalg­elehrten Rabindrana­th Tagore, der 1913 den Literaturn­obelpreis bekam. Universalg­elehrte sind mir immer verdächtig, aber Tagore ist eine Instanz, der ich auch vorsorglic­h vertraue. Ich habe mir vorgenomme­n, mich im Jahr 2020 deutlich mehr in der Natur aufzuhalte­n – und im Juni, wenn der Spruch dann aufklappt, möchte ich nicken und sagen: Der Mann hat ja so Recht.

Natürlich gibt es solche und solche Naturen. Die einen belächeln solche Zitate, zumal sie sich regelmäßig in Kalendern wiederhole­n. Die anderen aber schenken ihnen ein Nachdenken. Ich persönlich habe mir vorgenomme­n, Zitate von Menschen, die klüger sind als ich, vorurteils­frei erst einmal auf mich wirken zu lassen. Sie könnten zu Assistente­n meiner guten Vorsätze werden. Vor allem möchte ich häufiger mal nicht direkt lospoltern.

Zu diesem Behufe habe ich mir aus dem jetzt ablaufende­n Jahr einen Spruch des – was Zitate betrifft – wirklich maximal ergiebigen Dalai Lama aufgehoben. Er lautet: „In der Wut verliert der Mensch seine Intelligen­z.“

Lieber Leser, Sie haben bis hierhin durchgehal­ten. Bravo! Ihnen spende ich jetzt für alles Weitere einen passenden Satz aus der Visionenli­teratur des weisen Aldous Huxley: „Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumt­en Möglichkei­ten.“

Auf denn! Die nächste Zukunft kommt bestimmt und noch früh genug.

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