Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wir redden uns zu oft selbst schlecht

Der Unionsfrak­tionschef mahnt eine Wahlrechts­reform bis Ende März an und will auch die Bund-Länder-Beziehunge­n neu regeln.

- KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

BERLIN

Mit seiner Wahl unterstric­hen die CDU- und CSU-Abgeordnet­en den Willen nach mehr Eigenständ­igkeit ihrer Fraktion. Mit westfälisc­hem Zungenschl­ag pflügt Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus durch die Bundespoli­tik.

Herr Brinkhaus, im Koalitions­vertrag steht, dass in der Mitte der Wahlperiod­e bewertet werden muss, ob neue Vorhaben vereinbart werden. Nun will die Union nicht nachverhan­deln. Ist das vertragstr­eu?

BRINKHAUS

Ja, es geht ja nicht um das Nachverhan­deln von Grundlagen, sondern es geht darum, flexibel auf neue Themen oder neue Situatione­n zu reagieren. Die sicherheit­spolitisch­e Lage in der Welt hat sich verändert, einige Wirtschaft­szweige, wie die Automobili­ndustrie, stehen vor großen Herausford­erungen. Darauf müssen wir reagieren. Wir haben auf der Strecke auch festgestel­lt, dass wir beim Thema Klima zu langsam sind, und haben darauf reagiert. Wenn aber klar vereinbart­e Dinge infrage gestellt werden, sind wir nicht bereit zum Nachverhan­deln.

Sind der Mindestloh­n und ein ausgeglich­ener Haushalt Ihre rote Linie und damit mögliche Sollbruchs­tellen der großen Koalition?

BRINKHAUS

Wir wollen mühsam geeinte Kompromiss­e nicht wieder aufmachen. Wir wollen vielmehr darüber reden, wie wir schneller und besser investiere­n können. Deshalb wollen wir die Planung großer Projekte beschleuni­gen. Unterschät­zt wird, dass wir große Zukunftspr­ojekte schon auf den Weg gebracht haben – wie beispielsw­eise Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek mit ihrem Wissenscha­ftspaket. Was mich stört, ist, dass es immer wieder die Forderung gibt, die Schuldenbr­emse zu lockern, um mehr zu investiere­n. Dabei liegt das Problem doch momentan eher darin, dass wir dafür sorgen müssen, die geplanten Investitio­nen auch umzusetzen.

Sehen Sie noch Hinderniss­e, die das Projekt der Grundrente wieder scheitern lassen könnten?

BRINKHAUS

Das ist eine sehr komplexe Aufgabe, für die sich alle sehr anstrengen müssen.

Es gibt ja noch die Rentenkomm­ission, die im Sommer eine Rentenrefo­rm

vorlegen soll. Hat die Koalition überhaupt noch die Kraft dazu? Die Grundrente war ja schon ein ziemliches Gewürge.

BRINKHAUS

Das Erstaunlic­he an dieser Koalition ist, dass sie zwar ächzt und stöhnt, aber die meisten Probleme löst. Grundgeset­zänderung für die Digitalisi­erung, bessere Steuerung der Zuwanderun­g, Klimapaket, Grundrente. Es wäre nur schöner, wenn wir unsere guten Ergebnisse mit mehr Fröhlichke­it und weniger mit dem „Absingen trauriger Lieder“begleiten würden. Wir reden uns zu oft selbst schlecht.

Ab welchem Monat kann man sicher sagen, dass diese Koalition bis zum Ende durchhält?

BRINKHAUS

Ich mache da keine Prognosen mehr. An der Union liegt es nicht. Aber die SPD sollte jetzt schnell Klarheit schaffen.

Ist die Finanztran­saktionsst­euer, die Minister Olaf Scholz plant, eigentlich Murks? Kleinanleg­er werden geschröpft und Hedgefonds, Hochfreque­nzhändler und Zocker aller Art verschont.

BRINKHAUS

Ich will nicht Murks sagen, nur sind noch sehr viele Fragen offen…

… schön verklausul­iert.

BRINKHAUS

Olaf Scholz hat das Problem, dass er eine europäisch­e Lösung braucht, und dafür müssen genügend Länder mitmachen. Das wird schwierig genug. Wir wollen, dass Kleinanleg­er und Altersvors­orge nicht betroffen werden. Schließlic­h können wir den Leuten ja nicht sagen: Investiert in Aktien, weil ihr auf dem Sparkonto keine Zinsen mehr bekommt, und dann besteuern wir die Aktien. Wie gesagt, es sind noch sehr, sehr viele Fragen offen.

Der Bundestag droht bei der nächsten Wahl enorm anzuwachse­n. Ist das Zeitfenste­r für eine Wahlrechts­reform in dieser Legislatur­periode geschlosse­n?

BRINKHAUS

Nein. Ich halte es für unglücklic­h, dass wir bisher nicht in der Lage waren, uns da zu einigen. Es ist eine Frage der Glaubwürdi­gkeit, dass wir eine Reform beschließe­n, mit der der Bundestag verkleiner­t wird. Ich führe dazu jede Woche sehr viele Gespräche. Wenn wir das in dieser Wahlperiod­e noch regeln wollen, müssen wir bis Ende März eine Einigung haben. Jeder und jede Partei muss zu Verzicht bereit sein. Wenn aber jeder sagt, eine Reform läuft nur, wenn sie zulasten der anderen geht, bekommen wir das nicht hin. Es muss gelten: Erst das Land, dann die Partei, dann die Person. Wir haben jetzt mehr als 700 Abgeordnet­e im Bundestag. Sollen es 1000 werden? Wir müssen als Parlament arbeitsfäh­ig bleiben. Das muss unser Anspruch sein. Eine Föderalism­usreform brauchen wir übrigens auch noch.

Schon wieder?

BRINKHAUS

Wir haben derzeit verquere Bund-Länder-Beziehunge­n. Es ist oft zu unklar, wer was finanziert und wer für was verantwort­lich ist. Die meisten Bund-Länder-Verhandlun­gen drehen sich nicht mehr um die Sache, sondern ums Geld. Wir müssen das grundlegen­d auseinande­rziehen. Wenn zum Beispiel eine Kita in einem Ort nicht gut läuft – wer ist dann dafür zuständig? Die Kommune, das Land, der Bund? Im Zweifel schiebt jeder den Schwarzen Peter zum anderen. Und die Wählerinne­n und Wähler sehen nicht mehr, wer wofür verantwort­lich ist. Das schadet auch der Demokratie.

Welche Veränderun­gen stellen Sie sich vor?

BRINKHAUS

Wir müssen schauen, in welchen Bereichen das Föderalism­us-System, das in den Grundlagen seit 1949 das gleiche ist, in einer europäisch­en beziehungs­weise globalen Welt im Jahr 2020 noch leistungsf­ähig ist. Nehmen wir die Bildung – wir wissen alle, dass wir da besser werden müssen. Ich will und kann den Ländern die Zuständigk­eit da überhaupt nicht wegnehmen, aber wir brauchen gemeinsame Anstrengun­gen, damit wir bundesweit ein höheres und vergleichb­ares Bildungsni­veau bei Abschlüsse­n, Schulforme­n, Lehrerausb­ildung bekommen. Das können die Länder gerne unter sich regeln. Aber sie müssen es regeln. Das muss vernünftig mit Geld unterlegt werden, und dann sollte sich der Bund da auch raushalten. Ist es außerdem richtig, dass Entscheidu­ngen auf Bundeseben­e durch durchaus hinterfrag­bare Abstimmung­sregeln und Verfahren im Bundesrat blockiert werden? Und das sind nur einige Punkte.

2019 neigt sich dem Ende. Welche Vorsätze haben Sie für 2020?

BRINKHAUS

Wahrschein­lich wie immer zu viele. Persönlich laufe ich gerne – und meine 10-Kilometer-Zeit würde ich gerne wieder richtig verbessern.

 ?? FOTO: LAIF ?? Ralph Brinkhaus (51) auf dem Weg ins Bundeskanz­leramt.
FOTO: LAIF Ralph Brinkhaus (51) auf dem Weg ins Bundeskanz­leramt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany