Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Hai-Flüsterer
Lukas Müller ist der erste Deutsche, der ohne Käfig mit einem Weißen Hai tauchte. Seine Leidenschaft begann im Aquazoo. Jetzt will er dem Düsseldorfer Museum etwas zurückgeben – und die Besucher virtuell mit in den Ozean nehmen.
Die Meisten sehen ihren ersten echten Hai im Aquarium. Lukas Müller sieht ihn am Strand von Menorca. Da ist er drei Jahre alt und fragt sich, warum so viele nackte Menschen vor einem Tier weglaufen, das noch keinem etwas getan hat. Es ist ein warmer Tag im Sommer 1993, Lukas Müller ist für ein paar Tage mit seinen Eltern auf der Insel und hat noch keine Ahnung, was noch alles in dem weiten Meer auf ihn wartet. Der Blauhai taucht plötzlich auf. Das Tier gehört zu einer von nur sieben Hai-Arten auf der Welt, die für den Menschen gefährlich sein können. Tatsächlich gibt es aber kaum seriöse Berichte, in denen ein Blauhai einen Menschen verletzt hat. Eigentlich meidet er die Küste. An diesem Tag hat sich der Blauhai aber in die seichte Bucht verirrt, und während Mama Müller ihren kleinen Sohn packt, rennt Papa Müller ins Wasser. Mit Tauchmaske und Schnorchel. Er möchte dem mächtigen Räuber ganz nah sein.
Lukas beobachtet den Vater vom Balkon der Ferienwohnung aus. Der Blauhai beißt niemanden. Die Boulevard-Zeitungen titeln: „Hai-Alarm“. Wie sehr die Menschen diese Tiere wirklich fürchten, wird der kleine Lukas erst viel später erfahren. Er fliegt zurück nach Deutschland, ins Ruhrgebiet, dort, wo er keinem frei lebenden Hai je begegnen kann. Was für den ganz normalen Urlauber ziemlich beruhigend klingt, fühlte sich für den Jungen aus Bochum an wie der kalte Entzug.
In den folgenden Jahren malt Lukas viele bunte Haie. Im Fernsehen will er Dokus über die Meeresbewohner sehen und liest Bücher über alle möglichen Tiere – Hauptsache, die Menschen halten sie für gefährlich. Später, beim Urlaub in Griechenland, taucht er selbst. Und alle paar Monate kommt er nach Düsseldorf und schaut sich im Aquazoo den kleinen Schwarzspitzen-Riffhai an. Dann sitzt er vor der Scheibe, dicht dran mit der Nase, und berührt das Glas, hinter dem das Tier schwimmt.
Trotzdem hat er das Gefühl, noch nicht nah genug zu sein. Über viele Jahre kommt Lukas Müller immer wieder. Von den Tieren bekommt er nicht genug, es sind aber nicht nur die Haie, er schaut sich auch die Rochen an, die bunten Fische, die uralten Schildkröten, die Seepferdchen. Irgendwann beschließt er, die Faszination zum Beruf zu machen – und stürzt sich direkt ins Abenteuer.
Nach dem Abitur fliegt Müller nach Südafrika. Er jobbt dort für ein Unternehmen, das Urlauber in die Tiefen des Ozeans bringt. Es gibt dort alle möglichen Tiere, aber sehen wollen alle nur den Weißen Hai. In einem geschlossenen Käfig. Schon damals weiß Müller, dass er dem König der Meere viel lieber im freien Wasser begegnen will. Und er möchte das, was er sehen kann, auch für alle anderen sichtbar machen. Ganz besonders für die Besucher des Aquazoos, da, wo alles angefangen hat.
An der Ruhr-Universität Bochum studiert Müller Biologie. Später „Marine Resources Management“, ein spezialisierter Studiengang über den nachhaltigen Schutz der maritimen Ökosysteme, an der niederländischen Universität Wageninge. Heute ist Lukas Müller mit 29 Jahren einer der gefragtesten Hai-Experten, der schon in Indonesien, Mexiko und auf den Bahamas forschte, und derzeit über ein Projekt in Mosambik promoviert. Als erster Deutscher tauchte er mit dem Weißen Hai, ohne Käfig, ohne Tauchflasche, so wie er es immer wollte. Ein Atemzug, zweieinhalb Minuten unter Wasser. Auge um Auge mit einem der gefährlichsten Raubtiere der Erde. Oder? Müller wiederspricht.
Gefährliche Tiere gebe es gar nicht. „Es gibt nur gefährliche Situationen“, sagt er und beobachtet, wie der Schwertspitzenhai im Aquazoo-Aquarium neben einer Gruppe Oman-Kuhnasenrochen schwimmt. Müller sitzt wieder vor der Scheibe, an der Stelle, an der er auch als Kind schon saß. Genau wie vor mehr als 20 Jahren presst er die Nase ans Glas. Er ist zurück, mal wieder. Und das, obwohl es viel zu tun gibt in Mosambik. Dort, an der Küste des Indischen Ozeans, hilft er sechs Monate im Jahr, ein Schutzgebiet für die bedrohten Bullenhaie aufzubauen. Laien verwechseln sie gern mit dem Weißen Hai, weil die Kiefer fast identisch aussehen. Und Laien haben vor allem eins: Angst.
Zu Unrecht, sagt Müller. Er ist in einer Zeit aufgewachsen, in der – ausgelöst durch Steven Spielbergs „Der Weiße Hai“– ein Film nach dem anderen in die Kinos kam, in dem es um monströse Haie geht, die Jagd auf Menschen machen. Müller hält davon nicht viel. Wer vor einem Hai wegschwimme, mache deutlich, dass er Beute sei. Wenn Müller mit ihnen taucht, schwimmt er auf die Haie zu – vorsichtig und mit Respekt. „Der Hai denkt dann: Oh, das kenne ich so nicht.“Das sagt jemand, der bereits mit hunderten Haien im Wasser war. Es ist kein Tipp für Unerfahrene, die im Urlaub ihrem ersten Hai begegnen.
Im Bazaruto Nationalpark in Mosambik, auch die „Blaue Savanne“genannt, kümmert sich Müller mit einem Team aus Tauchern und Forschern um Haie, Rochen, Dugongs, Wale und Delfine. Es ist ein 1400 Quadratkilometer großes Areal. Wo sich die Tiere genau aufhalten, ist zu ihrem Schutz geheim. Um die Routen zu verstehen, auf denen die Haie schwimmen, statten die Meeresforscher sie mit Peilsendern aus. Denn die Haie sind stark gefährdet. Regelmäßig landen sie als Beifang in Fischernetzen werden als Trophäen gejagt oder kommen als Delikatesse auf den Teller.
Aber Müller will auch hier etwas tun, in Düsseldorf. Auch, um dem Aquazoo etwas zurückzugeben, dem Ort, an dem er schon als kleiner Junge so viel über die Ozeane und ihre Bewohner gelernt hat. Zusammen mit Jochen Reiter, dem Leiter der städtischen Einrichtung, will er ein Virtual-Reality-Projekt für den Aquazoo aufbauen. Besucher sollen Müller mit Virtual-Reality-Brillen bei seinen Tauchgängen in Mosambik begleiten können – von Düsseldorf aus. „Wir wollen es möglich machen, eine komplette Expedition zu erleben. Von dem Moment, an dem man mit dem Skipper ablegt, bis zum Treffen mit dem Hai“, sagt Müller. Das kostet viel Geld – allein für die Kameras und das Zubehör müsste er mehr als 40.000 Euro ausgeben.
Und dann sind da noch die VR-Brillen, die der Aquazoo anschaffen will. Das meiste will Reiter mit Spenden einnehmen und setzt dafür auch auf Unterstützung von Firmen aus der Region. Der Aquazoo ist eine städtische Einrichtung. Steuergeld kann er nicht für ein solches Projekt ausgeben. „Wir haben jedes Jahr 450.000 Besucher, die wollen wir sensibilisieren für den Schutz der Ozeane“, sagt Reiter, der den Zoo seit Februar 2016 leitet.
Den 46-jährigen Zoodirektor und Müller verbindet eine Freundschaft. Vor drei Jahren haben sich die beiden in einer Fernsehshow kennengelernt. Sie verstanden sich schnell. Der Zoodirektor erkannte sich im furchtlosen Taucher wieder. Reiter hat in Bochum einst bei dem Professor promoviert, bei dem Müller im Bachelor Vorlesungen hörte. Dafür reiste er als Student auf die Philippinen und erforschte dort, wie Flughunde leben. Im Herbst gingen die beiden zusammen auf eine Expedition. Müller nahm Reiter mit nach Mosambik und brachte ihm das Apnoetauchen bei. Ein Taucher kann durch die Technik mit nur einem Atemzug mehrere Minuten unter Wasser bleiben. In der Blauen Savanne zeigte er dem Zoodirektor die Riffhaie, zusammen sind sie mit den Tieren geschwommen.
Was Reiter in den Unterwasserwelten der Blauen Savanne erlebt hat, bleibt dem großen Teil der Menschheit für immer verborgen. Das gilt