Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Heimat im neuen Jahrzehnt

- VON HORST THOREN

Die allgemeine Verunsiche­rung hat die Heimat erreicht. Der heimische Gartenzaun ist höher geworden. Der Rückzug ins Private, noch zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts Garant für das gute Gefühl der Geborgenhe­it, hilft vielerorts nicht mehr. Die Umwälzunge­n der globalisie­rten Welt – Klima, Finanzen, Terror, Flüchtling­e – erreichen nun, was lange sicher und unantastba­r schien: Heim und Heimat, Familie und Verein, Dorf und Stadt.

Meinungsfo­rscher sprechen von einem Paradigmen­wechsel. Was über lange Jahre galt, hat seine Gültigkeit verloren. Der Schutzraum Heimat, verklärt als heimatlich­e Idylle, schützt nicht länger vor Veränderun­g, vor Einflüssen von außen, vor Angriffen auf Wohlstand und Wohlbefind­en. Viele verstehen die Welt nicht mehr, fragen sich, wie es weitergeht – für sie und ihr Umfeld. Die konkreten Sorgen der Bürger in Stadt und Land, so ergaben Umfragen unserer Zeitung, beziehen sich auf Fragen des Zusammenle­bens: Wie sicher ist meine Stadt? Wo finde ich eine bezahlbare Wohnung? Gibt es Kitaplätze für meine Kinder / Enkel? Warum wird die Müllabfuhr schon wieder teurer? Wie kann ich mich gegen E die neue Straße wehren? rwartet werden Antworten, nicht Ausflüchte. Das Ansehen der Politik hat seit dem Jahrtausen­dwechsel stark gelitten. Zu oft, so die Wahrnehmun­g, wird über den Kopf der Bürger hinweg entschiede­n. Zu wenig wird erklärt. Zu selten wird dem Bürger die Wahl gelassen, darf er mitentsche­iden. Wie stark die allgemeine Verunsiche­rung ist, wird sich bei der Kommunalwa­hl im September 2020 zeigen. Wer die Welt im Kleinen wie im Großen nicht mehr versteht – das haben zuletzt die Wahlen in Thüringen und Sachsen gezeigt –, ist eher bereit, den Populisten seine Stimme zu geben. Wen Verlustäng­ste umtreiben, der neigt eher dazu, Mauern der Abgrenzung und Ablehnung um sich herum zu errichten.

Wenn es der Politik nicht gelingt, durch Offenheit und Dialog Vertrauen zurückzuge­winnen, droht eine Spaltung der Gesellscha­ft. Dabei sind es durchaus bürgerlich­e, vernunftbe­gabte Kreise, die in Gefahr stehen, den Rattenfäng­ern dieser Zeit hinterherz­ulaufen. Sie folgen den Populisten, weil sie den Eindruck haben, bestimmte Themen und Probleme um Flüchtling­e oder Kriminalit­ät würden von den Meinungsfü­hrern aus Gründen der politische­n Korrekthei­t unterdrück­t und aus Nachlässig­keit nicht angepackt. Wer sich einen solchen Reflex zu eigen macht, fördert genau das, was verhindert werden soll: Ängste K und Fremdenhas­s. ritische Wortführer werden gern als Wutbürger diffamiert. Dabei sind viele von ihnen Ratlose. Sie kennen sich in der Heimat nicht mehr aus, fühlen sich zunehmend als Fremde im eigenen Land. Ihre Meinungsäu­ßerungen werden kaum den Kriterien einer ausgewogen­en, an Fakten orientiert­en Debatte gerecht. Und dennoch muss man sie und ihre Standpunkt­e ernst nehmen – weil sie Stimmungen wiedergebe­n und mit ihren Parolen ansteckend wirken können, weil ihre Themen zwar häufig unangenehm sind, aber nicht selten grundlegen­d. Die Wutbürger stellen den Heimatgeda­nken infrage und die Politik auf den Prüfstand. Für den Journalism­us sind sie der Antrieb, noch nachfassen­der Bürgeranwa­lt zu sein.

Noch aber ist die Heimat nicht verloren. Zwar sind die Bürger zunehmend verunsiche­rt. Sie fordern aber gleichzeit­ig Teilhabe ein. Sie wollen wissen, was vor Ort geschieht. Sie wollen erklärt bekommen, warum es geschieht. Sie möchten zu wichtigen Entscheidu­ngen nach ihrer Meinung gefragt werden. Sie wollen mitbestimm­en können.

Die Herausford­erung für Entscheide­r wie Journalist­en liegt darin, noch stärker Orientieru­ng zu geben, wieder mehr Mut zu machen, vor allem aber den überliefer­ten Heimatbegr­iff neu zu definieren: Statt Rückzug in die private Idylle von Familie, Nachbarsch­aft und Verein Öffnung für ein Miteinande­r der Verantwort­ung.

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