Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Wein, Vibe und Gesang
ESSAY Silvester ist eine der schönsten Launen der Welt. Und in diesem Jahr ist die Ausgangslage geradezu märchenhaft: Wer heute Abend feiern geht, kehrt erst im nächsten Jahrzehnt heim.
In dem Film „Barfuß im Park“aus dem Jahr 1967 gibt es eine ziemlich schöne Szene. Da fährt Jane Fonda mit Robert Redford in einer Kutsche durch New York. Sie umarmt ihn hingebungsvoll, sie küsst ihn, sie versinkt in ihm, sie hört gar nicht auf damit. Man merkt zwar, dass sie nicht gerade unglücklich darüber ist, dass ausgerechnet Robert Redford an ihren Lippen hängt. Im Grunde aber genießt sie einfach das Knutschen an sich. Deshalb darf sich Redford auf gar keinen Fall aus dieser Situation lösen. Als er es dennoch versucht, spricht sie einen strengen und unmissverständlichen Satz: „I’m not finished!“
Ein bisschen wie Jane Fonda mit Robert Redford geht es einem an Silvester mit dem alten Jahr. Egal, wie es war, man mag gar nicht aufhören, es zu feiern. Silvester ist so gesehen die einzige Nacht mit Überhangmandat: Wer heute zur Party geht, kehrt erst im nächsten Jahrzehnt zurück. Ein bisschen wie bei „Alice im Wunderland“: Zeitloch, Transitraum, Land hinter den Spiegeln. Auf dem Weg ins neue Jahr kann man noch viel Spaß mit dem alten haben. Silvester ist, um mal die alte Werbung für Kupferberg-Sekt zu zitieren, „eine der schönsten Launen der Welt“.
Komisch ist allerdings, dass dieses Datum gerade ein bisschen in Verruf geraten zu sein scheint. Manche finden, dass es nichts zu feiern gebe, weil: so viel Negatives in der Welt. Andere halten Silvester ohnehin für überschätzt. Sie scheinen sogar Angst davor zu haben: Was machen wir da bloß? Wo gehen wir hin? Im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ist kürzlich ein Text über die „ödeste und vorhersehbarste Party des Jahres“erschienen. „Luftnummer“lautet sein Titel. Gemeint ist natürlich die Silvester-Fete.
Dabei ist Silvester nicht der richtige Zeitpunkt für Sorgen und Angst. Sondern für Wein, Vibe und Gesang, also für gute Stimmung. Falco ist als Philosoph
stets unterschätzt gewesen, das sollte sich dringend ändern. Falco jedenfalls lieferte die Hymne für Silvester, als er sang: „Fragt nicht nach neuen alten Werten / Seht weißes Licht, seht nur Gefühl / Die Nacht gehört uns bis zum Morgen / Wir spielen jedes Spiel.“Nicht ohne Grund trinkt man an Silvester Champagner und Crémant: Jedes Kohlensäure-Bläschen ist ein Heißluftballon, an den man sich hängen und ins neue Jahr tragen lassen kann. Das funktioniert auch mit Fanta, Bionade und Mineralwasser. „Bubbly makes giggly“, sagen die Amerikaner. Blubber macht lustig.
Heute ist die Nacht, in der die Jahrzehnte einander in den Arm nehmen
Steven Pinker, der in Harvard Psychologie unterrichtet, hat am Wochenende in der „Financial Times“einen Ausblick auf das kommende Jahrzehnt veröffentlicht. Ein langer Text ist das geworden, viele bedenkenswerte Sachen stehen darin. Am Ende fasst Pinker seinen eigenen Aufsatz so zusammen: „Ich bin mir in einer Sache sicher: Die Zwanzigerjahre werden voller Probleme, Krisen und Verwerfungen sein. Genauso wie die Jahrzehnte zuvor und danach.“Same shit, different decade also. Und gerade deshalb total tröstlich. Pinker zitiert denn auch den Physiker David Deutsch, der gesagt hat: „Probleme sind unvermeidbar, aber Probleme sind lösbar, und Lösungen kreieren neue Probleme, die dann ihrerseits gelöst werden können.“
Man sollte nicht in die Kristallkugel schauen, um die Zukunft zu sehen, man sollte lieber die Discokugel nehmen. Probleme lösen kann man am 1. Januar, das ist früh genug, bis dahin ist Zwischenzeit. In keinem Bewerbungsgespräch wird nachgefragt, was man zwischen den Jahren gemacht hat. Das ist die Umkleidekabine des Kalenders, über dieser Zeit liegt ein Schleier. „Das Nachdenken über Glück und Genuss kann ein wichtiger Teil des Glücks sein. Und das genieße ich sehr“, sagt der Philosoph Robert Pfaller.
In keiner anderen Nacht wird schneller alles neu als in jener, in der die Jahrzehnte
einander in den Armen liegen. „Ah, maybe the time is right / Oh, maybe tonight“, singt Bono in dem U2-Song „New Year’s Day“. Und wer morgen dennoch Trübsal blasen sollte, möge sich zwei Filme ansehen, die andeuten, dass alles auch ganz schön werden und Lust machen kann auf die Zukunft. Der eine ist die aktuelle Episode der amerikanischen Showreihe „Carpool Karaoke“, in der die Sängerin Billie Eilish auftritt. Sie ist 18, sie kann unglaublich berührend singen, sie ist der größte Popstar des vergangenen Jahres. Und in dieser Folge zeigt sie sich als liebenswerte, menschliche, heitere und herzliche Person. Sie sitzt in ihrem Jugendzimmer, das sie auch als Weltstar noch bewohnt, und wenn diese sympathische Frau wirklich den Soundtrack für die nächsten Jahre liefert, werden die bestimmt toll.
Der andere Film ist der Kinohit „Booksmart“, das Debüt der 35 Jahre alten Regisseurin Olivia Wilde, das soeben auch Barack Obama als einen seiner kulturellen Höhepunkte des Jahres 2019 genannt hat. Das ist die Neuerfindung der Highschool-Komödie. Zwei Streberinnen nehmen in der letzten Nacht an der Schule das Leben volley. Sie reißen alle mit, sie überwinden soziale Grenzen, und am Ende ist ganz viel Liebe. Das anzusehen macht froh, und man will sofort und ganz unbedingt auch feiern und Menschen umarmen, weil: Feiern hebt den Geist.
Pailletten, Strass und Glitter. Bussi, Bussi, Prosecco. Man muss auch gönnen können, auch sich selbst. Wenn Silvester doof wird, war es halt 2019, und das ist dann eh zu Ende. Wenn es toll wird, darf die Nacht als Vorschein des neuen Jahres gelten, als gutes Omen. Es kann also nichts schiefgehen.
Phil Collins hat zu Silvester 2017 via Twitter einen Tipp gegeben, wie man das neue Jahr stilecht und mit einem angemessenen Tusch begrüßt. Einfach um 23.56 Uhr und 40 Sekunden seinen Hit „In The Air Tonight“anstellen. Das legendäre Trommel-Solo beginnt dann exakt um 0 Uhr.
„I’ve been waiting for this moment for all my life. Oh Lord.“