Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Ein rheinisches Leben
Hermann Becker ist in Düsseldorf-Holthausen aufgewachsen – und wohnt bis heute dort. In 83 Jahren hat er viel erlebt. Zeit für einen Rückblick auf acht Dekaden.
DÜSSELDORF Als Hermann Becker 1936 zur Welt kam, war seine Heimat noch ein Dorf. Heute hat Düsseldorf-Holthausen knapp 13.000 Einwohner und den größten Sportverein der Stadt. Becker ist dem Ortsteil stets treu geblieben, lebt inzwischen mit seiner Frau Helga in einer Wohnung im 2. Stock. Im Innenhof des Gebäudes steht ein kleiner Marienaltar – den hat der Vermieter eingerichtet, ein gläubiger Christ, erzählt der 83-Jährige. Aber er passt auch gut zu ihm und seiner Frau: Vor knapp zwei Monaten haben sie ihre Diamantene Hochzeit mit einem Gottesdienst gefeiert. An einem verregneten Herbsttag nimmt sich Becker im Esszimmer, in dem Jagdtrophäen an der Wand hängen und leise vorweihnachtlicher Schlager läuft, Zeit für einen Rückblick auf acht Dekaden Leben.
1936 bis 1946: Eine schöne Kindheit Am 29. Oktober 1936 kam Hermann Becker im Krankenhaus St. Josef in Düsseldorf-Oberbilk zur Welt, die Familie wohnte schon in Holthausen. Die Mutter stammte aus dem Teutoburger Wald, der Vater war gebürtiger Düsseldorfer. Er wuchs ohne Geschwister auf, die ersten Lebensjahre waren vom Zweiten Weltkrieg geprägt, 1943 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen. An den 25. November 1944 kann sich Becker besonders gut erinnern: „Ich war bei einem Freund zum Adventskalender basteln“, erzählt er, „da fiel direkt vor dem Haus eine Bombe. Ich weiß bis heute nicht, wie ich da lebend rausgekommen bin.“13 Menschen starben – für Beckers Mutter das Signal, Düsseldorf zu verlassen. In ihrem Heimatort Blomberg ging Becker bis zum Kriegsende zur Schule – dann ging es zurück ins Elternhaus an der Kölner Landstraße. „Wir hatten Schweine, Kaninchen und Hühner, ich musste nie hungern“, sagt Becker. Im August 1945 kam der Vater zurück, auf der Flucht vor der Roten Armee hatte er unter anderem die Elbe durchschwommen. „Erzählt hat er nie viel vom Krieg“, sagt Becker. Für ihn selbst seien die Kriegsjahre zwar belastend gewesen – „aber als Kind nimmt man das ja nicht so wahr, wir haben viel gespielt und ich hatte eine relativ normale, schöne Kindheit“.
1946 bis 1956: Prozession mit Folgen Nach dem Krieg besuchte Becker die katholische Volksschule in Holthausen, mit zwölf ging er zur Erstkommunion. „Damit wir etwas Ordentliches zu essen hatten, hat meine Mutter davor extra viel gearbeitet“, sagt er. Und ordentlich hieß damals vor allem: mit Butter. Nach der Messe gab es Buttercremetorte. 1951 dann war ein besonderes Jahr:
Zunächst beendete er die Schule und begann eine Lehre als Vermessungstechniker, trat in den Schützenverein ein, dem er noch heute angehört und lernte bei der Fronleichnamsprozession Helga kennen. Sie war damals 13 Jahre alt, er 15 – mit ihren blonden Zöpfen fiel sie ihm gleich auf. Immer wieder trafen sie sich danach, auf Festen oder in der Tanzschule. Im Dezember 1956 wurden sie schließlich ein Paar.
1956 bis 1966: Leben zu zweit Zusammenziehen konnten die beiden erst einmal nicht – ohne Verlobung war das in den 50er Jahren nicht üblich. Länger als drei Jahre hielten sie das aber nicht aus: Im März 1959 hielt er um ihre Hand an, am 6. November heirateten sie. Gemeinsam zogen sie zunächst nach Düsseldorf-Rath, knapp ein Jahr später dann zurück in ihren Heimat-Stadtteil, damals noch sehr bäuerlich geprägt: „Wobei wir bis heute sagen: Wir gehen mal ins Dorf.“Es hat sich viel verändert, an der Stelle von Beckers Elternhaus steht heute eine Bank – eines aber ist geblieben: die Verbundenheit zu alten Freunden, zur Kirche und zum Schützenverein. 1959 wurde er Regimentsprinz, begleitete den König zu Festen von benachbarten Vereinen, „eine sehr lustige Zeit“. 1964 kauften sie sich das erste eigene Auto, einen DKW, Dampf-Kraft-Wagen, eine längst verblichene Marke. „Man musste noch die Tür zuhalten beim Fahren“, erzählt Becker und lacht. Das Auto brauchte er vor allem für seine Arbeit beim Energieversorger RWE. Helga Becker arbeitete im Rechnungswesen der Rheinischen Post, von traditioneller Familienaufteilung hielten beide wenig.
1966 bis 1976: Ein unerfüllter Wunsch Eher ruhig nennt Hermann Becker diese Jahre – und geprägt von etwas, das die beiden bis heute traurig stimmt: Mit einem eigenen Kind klappte es nicht. Das bedauerte auch Beckers Mutter, zu der er bis zu ihrem Tod 1972 ein inniges Verhältnis hatte. Irgendwann akzeptierten sie ihre Kinderlosigkeit als Schicksal – und legten stattdessen viel Wert auf Freizeitgestaltung. Hermann Becker gründete in seiner Firma einen Angelclub, 1973 legte er die Jägerprüfung ab. Gemeinsam verreisten beide viel, unter anderem nach Jugoslawien, Italien und zum
Wandern in den bayerischen Wald. Und sie nahmen ein altes Hobby wieder auf: Tanzen, „das war schon immer unser Ding“. Walzer, Chacha, Quickstep und – die Spezialität des Paars – Tango. Auch wenn es inzwischen schwieriger geworden ist mit der Agilität, tanzen die beiden immer noch gerne miteinander.
1976 bis 1986: Uns geht es gut
Für 30 Jahre Firmenzugehörigkeit gab es 1982 von RWE Jubiläumsgeld, das er in eine Jagdreise nach Pommern steckte. Helga Becker hingegen ist die Jagd immer schon fremd. Sie verbringt ihre Urlaube lieber entspannt, „ich bin eine Frau für die Königsallee“, sagt sie und lacht. Besonders gut gehen ließ es sich das Paar in Bodenmais im bayerischen Wald. Bestimmt 20 Mal waren sie dort zu Besuch, „immer im ersten Haus am Platz“, wie Hermann Becker mit ein wenig Stolz in der Stimme sagt.
1986 bis 1996: Einmal ein König Ein eigenes Kind blieb ihnen verwehrt – im August 1988 aber kam Corinna zur Welt, die Tochter der Lieblingsnichte von Helga Becker. Bis heute ist die Beziehung zu ihrem Patenkind eng, wie ein Ersatzkind sei Corinna, sagen beide. 1990 erkrankte Hermann Becker an Nierenkrebs und ging in den Vorruhestand. „Die Diagnose war schlimm und hat mich verunsichert“, sagt Becker. Doch er überstand die Erkrankung gut – und hatte viel Zeit, auch für Corinna. Und fürs Kochen. Da sind die Beckers streng: Sie macht Frühstück, er kocht warm – am liebsten deftig und mit Wild. Gegessen wird gemeinsam. Im Esszimmer stehen viele Fotos, unter anderem auch eines von einem weiteren Höhepunkt: 1992 wurde er Schützenkönig, mehr als 40 Jahre nach seinem Eintritt bei den St. Sebastianus-Schützen Holthausen. Gemeinsam mit Helga und Corinna winkte er bei der Königsparade von der Kutsche aus. Musiker aus Bodenmaisfeld im bayerischen Wald, die die Beckers auf Reisen kennengelernt hatten, kamen zu Besuch. Und sie sammelten mehr als 7000 Mark für die Elterniniative der Kinderkrebsklinik, „eine Herzensangelegenheit“, sagt Hermann Becker, seit Corinnas Geburt waren sie dort aktiv.
1996 bis 2006: Die Rente genießen Seit 1996 ist er endgültig im Ruhestand, zwei Jahre später folgte auch seine Frau. Von nun an war noch mehr Zeit für soziales Engagement – in der CDU, in der beide seit vielen Jahren Mitglied sind, bei den Schützen, in der Kirchengemeinde. Zudem feierten sie Hermann Beckers 60. Geburtstag mit 170 Verwandten, Freunden und Kollegen sowie Vertretern von 13 Schützengesellschaften. „Wir haben immer gerne und ausgelassen gefeiert“, erinnert er sich. Nach 37 Jahren hieß es 1997 zudem Abschied nehmen von ihrer Wohnung. Nach zwei Einbrüchen innerhalb von anderthalb Jahren hatten sie genug vom Parterre – und zogen in eine Wohnung im 2. Stock. Holthausen blieben sie treu, etwas anderes kam nicht in Frage, auch als es kurz darauf noch einmal in eine andere Wohnung ging.
2006 bis 2016: Einsatz für Senioren Wer gerne feiert, lässt es auch zur Goldenen Hochzeit noch einmal krachen: Am 6. November 2009 waren Helga und Hermann Becker 50 Jahre verheiratet – und luden 45 Gäste in ein schickes Restaurant ein. „Das war sehr vornehm, richtig vom Feinsten“, sagt Hermann Becker. Zudem kam das Ehepaar 2010 in seiner jetzigen Wohnung an, die 3. Etage war zu anstrengend geworden. Jetzt also 2. Stock mit Aufzug, vier Zimmer, Balkon und den Marienaltar gleich vor der Haustüre. Bis heute schläft das Paar in einem Zimmer und steht sich auch sonst sehr nah. Ihr wichtigster Ratschlag: nie im Streit zu Bett gehen, immer über alles reden. So halten sie es bis heute – „und Hermann packt mir jede Nacht die Füße ein, damit ich nicht friere“, ergänzt Helga. Auch daran merkt sie, dass sie älter wird. Und überhaupt: Mit dem Verreisen und dem Jagen, das geht nicht mehr so einfach, auch bei den Schützen sind die beiden nicht mehr so aktiv.
Weil nur zu Hause herumsitzen aber nicht Hermann Beckers Ding ist, hat er sich ein neues Betätigungsfeld gesucht: den Seniorenrat der Stadt Düsseldorf. 2014 trat er zum ersten Mal an und wurde gleich gewählt. Seitdem engagiert er sich unter anderem in den Arbeitskreisen Gesundheit und Pflege sowie Sicherheit und Verkehr – und organisiert seit 2015 jedes Jahr im Juli mit der Don-Bosco-Stiftung eine große Schiffsfahrt für bedürftige Senioren aus seinem Stadtbezirk. Rund vier Stunden dauert die Fahrt. Der
Eigenanteil beträgt fünf Euro, den Großteil der Kosten organisiert Becker, etwa über Spenden, aber auch die Stadt gibt Geld dazu. Auch Helga Becker ist immer mit an Bord. Und weil es ohne Musik bei den Beckers einfach nicht geht, natürlich eine Zwei-Mann-Kapelle – „damit getanzt wird“, sagt Hermann Becker.
Bis heute – und darüber hinaus
Die Wohnung der Beckers ist reich geschmückt – im Wohnzimmer hängt aber ein ganz besonderes Stück: die goldgerahmte Urkunde über das Bundesverdienstkreuz am Bande. 2017 bekam Hermann Becker dieses für sein vielseitiges ehrenamtliches Engagement. „Das war ein schöner Anruf“, sagt er schlicht, Helga Becker wird deutlicher: „Also, ich habe geweint.“Am 4. September, ausgerechnet am Tag des Klompenballs am Schützenfestmontag, bekam er es überreicht, 20 Leute durfte er mitnehmen ins Rathaus. „Das war schon toll“, sagt er. Ansonsten, so sagen sie beide, merken sie, dass sie älter werden – daran, dass immer mehr alte Weggefährten und Freunde sterben oder krank werden, aber auch daran, dass immer wieder Jubiläen anstehen.
Im November 2019 war es ein ganz besonderes: die Diamantene Hochzeit, 60 Jahre Ehe. Mit einem Festgottesdienst am Samstagabend, in dem das Ehepaar seinen Trausegen erneuerte, gingen die Feierlichkeiten los. In der Kirche wurde auf Wunsch des Jubelpaars „Ave Maria“gesungen und „Oh, happy day“, auf dem Kirchplatz blies anschließend ein Jägerensemble. „Das habe ich organisiert“, sagt Helga Becker verschmitzt, „Hermann wusste nichts davon – und hatte Tränen in den Augen.“Ein Erlebnis sei es gewesen, sagt er, die vielen Menschen zu sehen, die sich mit ihnen freuten. „Der Pfarrer hat uns am Hauptportal abgeholt – ganz wie vor 60 Jahren“, schwärmt auch Helga Becker. Gefeiert wurde anschließend in einer Gaststätte, natürlich mit Zwei-Mann-Musikkapelle. Und Wildpfeffer nach seinem Rezept.
Für die Zukunft wünschen sich die Beckers vor allem Gesundheit – und noch lange zusammenbleiben zu können. Zurückstecken kommt für sie jedenfalls nicht in Frage: Hermann Becker ist gerade dabei, die nächste Schiffsfahrt für bedürftige Senioren vorzubereiten – und die nächste Reise ist auch schon gebucht. Im Frühjahr geht es mit Freunden nach Wien. Ansonsten wollen sie sich gar nicht so richtig festlegen, „wir sind ja schon alte Leute“, sagt Helga Becker. „Ach doch“, sagt Hermann Becker nach kurzem Überlegen, „eine Sache würde ich schon noch gerne erleben: unsere Eiserne Hochzeit in fünf Jahren. Das wäre wirklich schön.“