Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Mutter aller Krisen
Der Brexit, der Aufstieg Donald Trumps und die desaströsen Handelskriege der Gegenwart sind auch eine Folge der globalen Finanzkrise von 2008/2009. Die Angst um das Ersparte macht viele Wähler zu Anhängern rechtspopulistischer Strömungen.
Jedes Jahr im August trifft sich die Elite der Notenbanker und der akademischen Finanzwelt im US-Skiparadies Jackson Hole in Wyoming. Im Jahr 2005 wurde der verdienstvolle amerikanische Notenbankpräsident Alan Greenspan von den versammelten Top-Ökonomen geehrt und verabschiedet. Nur einer wollte in den allgemeinen Jubel über den Magier der US-Geldpolitik nicht einstimmen: der indischstämmige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Raghuram Rajan. Der Wirtschaftswissenschaftler warnte sehr konkret vor den Gefahren und Risiken einer ungehemmten Finanzwirtschaft – vor allem vor dem Hintergrund einer beispiellosen Immobilienblase.
Die ketzerische Rede des IWF-Ökonomen fand keinen Gefallen. Als Probleme wurden damals die Verschuldung der USA und die massive Gläubigerposition Chinas gesehen. Die Freiheit des Finanzmarkts galt hingegen als Fundament und Treiber einer für die gesamte Welt vorteilhaften Globalisierung. Kein Geringerer als der frühere US-Finanzminister Larry Summers qualifizierte Rajan als fehlgeleiteten Katastrophen-Guru ab.
Doch der Professor aus Chicago sollte recht behalten. Nur drei Jahre später, am 15. September 2008, meldete die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Tags darauf, so schien es, würde der weltgrößte Versicherer AIG folgen. Schockwellen durchliefen die Börsen in den USA, Europa und Fernost. Nur mit massiven Staatshilfen in dreistelliger Milliardenhöhe gelang es, die globalen Finanzmärkte vor einer Kernschmelze zu bewahren, wie es in Anlehnung an den größtmöglichen Unfall eines Atomkraftwerks hieß. Es war die erste schwere Krise des „globalen Zeitalters“, wie der amerikanische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schrieb. „Wir haben in den Abgrund geschaut“, erinnerte sich der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.
Was war passiert? In der Immobilienblase hatten US-Finanzinstitute scheinbar das monetäre Perpetuum Mobile erfunden. Auf der Suche nach Krediten, die sie zu großen Finanzpaketen verschnürten, waren Hypothekenfinanzierer wie die US-Banken Fannie Mae und Freddie Mac bereit, Darlehen auch an die unsichersten Schuldner zu geben. Solange die Kurse der Pakete stiegen, schienen
die Gewinne in den Himmel zu wachsen. Auch europäische und asiatische Banken drehten am gewaltigen Finanzrad mit. Ende 2007 hielten Ausländer rund ein Viertel der Darlehen an die US-Hausbesitzer. Dann schmolz das gigantischste Schneeballsystem, das die Welt je gesehen hatte. Reihenweise drohte den großen Finanzinstituten der Welt der Ruin.
Am Ende traf es zwar nur einzelne Banken. Der Schlag war aber gewaltig. Das Weltfinanzsystem stand vor dem Kollaps. Nur in einer gemeinsamen Aktion aller Notenbanken der global führenden Wirtschaftsnationen, von so unterschiedlichen Ländern wie den USA, China, Russland, Saudi-Arabien oder Brasilien, aber auch der Europäischen Zentralbank und der Bank of England gelang es, die Kernschmelze des Finanzsystems abzuwenden. Doch der Sieg glich dem des antiken griechischen Feldherren Pyrrhus. Denn das Vertrauen der Sparer in die Finanzmärkte war erschüttert.
Es dauerte kein Jahr, bis die Krise voll in den Euroraum schwappte. Als erster Staat ging Griechenland in die Knie. Die sozialistische Regierung von Giorgos Papandreou musste 2010 ihre Neuverschuldung von 3,7 auf knapp 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach oben korrigieren. Das Land bettelte bei den anderen Euro-Ländern um einen Notkredit, um eine Staatspleite abzuwenden. Der demütigende Antrag, der noch dazu allen Vertragsbedingungen der europäischen Währungsund Wirtschaftsunion widersprach, löste eine beispiellose Folgereaktion in anderen Euroländern aus. Auch Portugal und Irland konnten ihre Staatsschulden nicht mehr bedienen, Spanien bangte um sein Bankensystem. Der Euro, die neue starke Währung der Europäischen Union, schien vor dem Aus zu stehen. Urängste machten sich bei den Bürgern auf dem alten Kontinent breit, Erinnerungen an die Zeit der großen Wirtschaftskrise von 1929 bis 1933 kamen auf.
Es bedurfte einer Mischung aus milliardenschweren Rettungspaketen, die alle bisherigen Dimensionen sprengten, und der Ankündigung des italienischen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi,
alle Maßnahmen zur Rettung des Euro zu ergreifen „whatever it takes“(was auch immer nötig ist), um der Lage wenigstens einigermaßen Herr zu werden. Ihren Höhepunkt erreichte die Griechenland-Krise im Jahr 2015, als die Links-Regierung unter Premier Alexis Tsipras die Bedingungen für weitere Kredite in einem Volksentscheid ablehnen ließ und dann doch neues Geld aus dem Hilfsfonds ESM beantragte. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) erwog damals, die Griechen für einige Zeit aus der Währungsunion zu verbannen. Erst im letzten Moment stoppte Kanzlerin Angela Merkel ihren unnachgiebigen Chef-Haushälter, um ein politisches Desaster zu vermeiden.
Die deutsch-griechischen Beziehungen, ohnehin belastet nach den Gräueln der Nazi-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, lagen da schon in Scherben. Die Griechen machten regelmäßig Rechnungen über Entschädigungszahlungen in dreistelliger Milliardenhöhe auf. In Deutschland tobten die Boulevard-Zeitungen wegen der angeblichen finanziellen Sorglosigkeit der Südländer, für die jetzt deutsche Sparer aufkommen müssten.
Doch nicht nur politisch hinterließ die große Finanzund Schuldenkrise von 2008 bis 2009 eine große Unordnung. Auch die Wirtschaft der westlichen Länder wurde hart getroffen. Frankreich fand weder aus der Wachstumskrise noch aus seinen verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen heraus. Italien konnte kaum Produktivitätsfortschritte vermelden, steigerte weiter die Verschuldung und drohte sogar, seine industrielle Basis zu verlieren. In vielen Ländern nahm die Spaltung der Gesellschaft zu, erzielten die mittleren und niedrigeren Einkommen kaum noch Zuwächse, während sich Aktienbesitzer und andere Vermögende rasch vom Finanzschock erholten.
Am stärksten fiel die gesellschaftliche Spaltung in den angelsächsischen Ländern aus. In Ländern wie den USA und Großbritannien stiegen die Topeinkommen auf Werte an, die zuletzt in den 20er Jahren erreicht worden waren. Es entstand vor allem in Großbritannien
und den USA ein gewaltiges Gefälle zwischen den Ballungszentren und den ländlichen Regionen, in den USA zwischen Küste und Binnenland, in Großbritannien zwischen Süden und Norden.
Es gehört nicht viel politische oder ökonomische Analyse dazu, darin einen Grund für das Aufkommen populistischer Strömungen zu sehen. Wenn durch den Aufstieg des Finanzsektors, der Globalisierung und der scharfen Anpassung Jobs in der Industrie verloren gehen, werden die Verlierer anfällig für Politikansätze, die in der Abschottung der Grenzen gegenüber ausländischen Waren und Menschen große Vorteile sehen. Sowohl Donald Trump in den USA als auch Boris Johnson in Großbritannien nutzten die neue Koalition aus verbitterten Arbeitern und der klassischen konservativen Klientel für ihre Wahlsiege.
Nicht ganz so klar verlief der Aufstieg populistischer Parteien oder starker Führerfiguren in so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, Österreich, Italien oder Japan. Eine Erklärung könnte der Bonner Ökonom Moritz Schularick beisteuern. Er untersuchte die Finanzund Wirtschaftskrisen der vergangenen 140 Jahre in 20 Ländern. Dabei kam der Wissenschaftler zum Schluss, dass vor allem Finanzkrisen, weniger tiefe Einbrüche der Konjunktur oder große Umwälzungen in der Weltwirtschaft zu Vertrauenskrisen in die Demokratie führen. Das begünstige, so Schularick, rechtsextreme oder rechtspopulistische Strömungen. Weil damit die politische Lösung der Probleme erschwert werde, dauerten die Erholungsphasen nach Finanzkrisen besonders lang und begünstigten somit erneut Protestbewegungen, die in manchen Fällen sogar zu Machtübernahmen führten. Rechtspopulistische Regierungen würden mehr auf Handelskriege setzen als auf weltwirtschaftliche Kooperation.
Die These ist eine mögliche Erklärung dafür, dass die Finanzkrise auch nach zehn Jahren noch immer wirkt. Den entwickelten Ländern mit weltoffenen Regierungen ist es bisher nicht gelungen, den Geist der Kooperation über den des Konflikts zu stellen. Im Gegenteil: Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der jetzt am 31. Januar 2020 vollzogen wird, stellt etwa die Europäische Union (auf eine Belastungsprobe und schmälert ihren weltweiten Einfluss. Einziger Lichtblick: Die EU hat in der Eurokrise und beim Brexit neue Überlebensinstinkte entwickelt. In einem Jahrzehnt größerer finanzieller Sicherheit könnte die Europäische Union auch wieder auf die Erfolgsstraße gelangen.
„Wir haben in den Abgrund geschaut“
Peer Steinbrück Bundesfinanzminister zwischen 2005 und 2009