Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Wie das Jahrzehnt für Deutschland wird
Dank Kurzarbeit, Geldpolitik und Industrie hatte Deutschland die Finanzkrise überraschend schnell überstanden. Heute lauern die größten Gefahren im Umgang mit Digitalisierung und AutoRevolution. Und in den falschen Antworten der Politik.
Wauf enn an diesem Dienstag die letzten Sekunden des Jahres verstreichen, blickt Deutschland
ein erfolgreiches Jahrzehnt zurück. Der Wirtschaftsboom war ausdauernd wie lange nicht. Seit der Finanzkrise 2008 schrumpfte die deutsche Wirtschaft in keinem Jahr. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit dem Horrorjahr 2005 halbiert: 2,5 Millionen Arbeitslose bundesweit bedeuten Vollbeschäftigung in vielen Regionen. Die Löhne steigen schneller als die Preise. Die Inflation ist kein Thema und liegt unter zwei Prozent. Das ist erstaunlich, weil die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank bisher nur die Immobilienpreise anheizt. Das ist umso erstaunlicher, wenn man an 2008 zurückdenkt, als die Finanzkrise die Welt erschütterte. Damit stellen sich zwei Fragen: Wie hat Deutschland das geschafft? Und: Ist eine Wiederholung der Finanzkrise möglich?
Wie Deutschland es schaffte Bei den meisten Deutschen war die Finanzkrise am 5. Oktober 2008 da, als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) vor die Presse traten, um einen Sturm auf die Banken zu verhindern. In Norddeutschland waren an Geldautomaten bereits große Scheine knapp geworden. „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“, verkündeten Merkel und Steinbrück. Ein Versprechen, das durch seine Ankündigung wirken musste. Die Regierung hätte es nicht erfüllen können, falls alle Deutschen ihr Geld am Schalter eingefordert hätten.
Die spontane Aktion glückte, aber auch in der weiteren Krisenbewältigung machte Deutschland vieles richtig. So weitete die Politik das Kurzarbeitergeld aus. Die Arbeitsagenturen konnten es für zwei Jahre zahlen, die Arbeitgeber wurden bei Sozialabgaben entlastet. Das half den Unternehmen, ihre Belegschaften zu halten. In der Spitze waren fast 1,5 Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit, den Staat kostete das Milliarden. Als die Wirtschaft wieder ansprang, konnten die Betriebe mit eingearbeitetem Personal weitermachen.
Anders als etwa Großbritannien oder Irland, die einen großen Finanzsektor haben und die die Finanzkrise besonders traf, hatte und hat Deutschland eine starke Industrie. Auf sie entfällt ein Viertel der deutschen Wertschöpfung, inklusive Bau sogar 30 Prozent. In Großbritannien sind es nur 18 Prozent. Hinzu kommt in Deutschland ein robuster Mittelstand, vielfach in Familienhand.
Woher die Gefahr kommt Doch jeder Boom geht einmal zu Ende. Und auch wenn die deutsche Wirtschaft insgesamt 2019 an einer Rezession vorbeischrammte, so hat es die Industrie erwischt. Sie schrumpft und baut erstmals seit der Finanzkrise wieder Stellen ab. Zum einen ist sie exportabhängiger als andere Sektoren und als die Industrie in anderen Ländern. Sie leidet daher besonders unter dem Handelskrieg, den die USA und China sich im Ringen um die Vorherrschaft in der Welt liefern. Der Schlingerkurs um den Brexit löst Unsicherheit aus. Hinzu kommt, dass die deutsche Autoindustrie, an der direkt oder indirekt jeder siebte Arbeitsplatz hängt, in einer Strukturkrise steckt. Die Branche hängt im Dieselsumpf fest, hat den Wandel zur Elektromobilität verschlafen und viel zu spät auf den Bedeutungsverlust von PS-Protzen reagiert. Zudem laufen deutsche Firmen der Digitalisierung hinterher. Mittlerweile sind nur noch zwei deutsche unter den 100 wertvollsten Konzernen der Welt: der Softwareriese SAP und Siemens. Angeführt wird das Ranking vom Ölkonzern Aramco, ansonsten dominieren US-Techkonzerne von Apple über Microsoft bis Amazon.
Kann sich die Finanzkrise wiederholen? „Viele politische Entwicklungen sind nicht nur Folge von 2008, sie sind auch der Beweis dafür, dass diese Finanzkrise noch lange nicht vorbei ist“, sagt der Historiker Adam Tooze, der ein Buch zur Dekade der Finanzkrisen veröffentlicht hat. Allerdings haben Politik und Wirtschaft viel getan, um Krisen unwahrscheinlicher zu machen.
Beispiel Banken-Regulierung: Die Förderbank KfW hatte sich 2008 zum Gespött gemacht, weil sie am Tag der Lehman-Pleite noch 320 Millionen Euro in die USA überwiesen hatte. Kein Manager hatte es für nötig erachtet, über das Wochenende die Lage zu beobachten. „Deutschlands dümmste Bank“, titelte die „Bild“. Heute müssen Banken sich regelmäßig Stresstests unterziehen, bei denen die Aufsicht durchspielen lässt, wie die Institute mit Börsenabstürzen oder Staatspleiten umgehen. Wer keine Risikosysteme hat, muss nacharbeiten.
Beispiel Rettungsschirme: Die Politik musste in Finanzund Eurokrise erkennen, dass es Banken und Versicherer gibt, die zu wichtig sind, als dass der Staat sie sterben lassen kann („too big to fail“). Aus ordnungspolitischer Sicht war es zwar richtig, Lehman pleite gehen zu lassen – schaut man aber auf die Folgen, war es falsch. In Deutschland richtete man einen Banken-Rettungsschirm ein, die HRE wurde komplett verstaatlicht, die Commerzbank teilweise. Die US-Banken wurden sogar zwangskapitalisiert. Eine Maßnahme, die womöglich auch der Deutschen Bank gutgetan hätte: Der damalige Chef Josef Ackermann hatte hochmütig erklärt: „Ich würde mich schämen, wenn wir in der Krise Staatsgeld annehmen würden.“Heute ist die Bank ein Schatten ihrer selbst, die Aktie ist auf ein Zehntel gefallen.
Selbst beim Thema Manager-Haftung hat sich etwas getan. In der Finanzkrise wurde immer wieder die fehlende Moral der Banker beklagt. Erst zogen sie die Anleger über den Tisch, dann ihre Eigentümer und den Staat. Das hat auch etwas damit zu tun, dass sie als Angestellte allenfalls den Rauswurf riskierten, aber kein eigenes Geld. Zwar musste in Deutschland kein Banker in Haft, der Prozess gegen den unheilstiftenden HREChef Georg Funke wurde 2017 eingestellt. Doch seit dem Auffliegen des Cum-Ex-Skandals bei Banken und des Dieselskandals scheint die deutsche Justiz aus ihrem Dornröschenschlaf in Wirtschaftssachen erwacht. Angestiftet durch das forsche Auftreten der US-Justiz müssen nun auch hier Banker und Automanager bis hin zu den früheren Konzernchefs wie Martin Winterkorn (VW) zittern. Ex-Audi-Chef Rupert Stadler saß gar mehrere Monate in Untersuchungshaft. Urteile stehen noch aus.
Die größten Risiken für Deutschland sind nicht die konjunkturellen, sondern die strukturellen. Schafft die Autoindustrie die Transformation? Bekommen wir die Energiewende hin? Wie sieht die deutsche Antwort auf Google, Amazon und Alibaba aus? Wie finanzieren wir drei Millionen zusätzliche Rentner bis 2030 bei gleichzeitig sinkender Zahl der Erwerbstätigen? Und wie verhindern wir, dass Bürger und Regionen, die sich vom Wandel abgehängt fühlen, die AfD so stark machen, dass eine Regierungsbildung ohne sie nicht möglich ist?
Wirtschaftskrisen kommen immer wieder. Welchen Schaden sie auf Dauer anrichten, liegt in den Händen der Politik. Oder wie Hank Paulson, 2008 republikanischer US-Finanzminister, sagte: Wäre Donald Trump damals am Ruder gewesen, hätte es womöglich eine große Depression wie nach 1929 gegeben.