Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der große Graben

Keiner will Sitze verlieren. Deshalb scheitert jeder Versuch, den Bundestag zu verkleiner­n. Dabei gäbe es eine naheliegen­de Lösung: die echte Trennung von Erst- und Zweitstimm­e.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Das Problem der Deutschen mit ihrem aufgebläht­en Bundestag hat auch damit zu tun, dass sie es besser machen wollten als die anderen. Die Briten wählen im Mutterland der Demokratie ihr Parlament allein über ihre Wahlkreisk­andidaten. Ins Unterhaus kommt jeder, der in seiner Heimatregi­on die meisten Stimmen bekommen hat. Sonst niemand. Dadurch können im Extremfall fast die Hälfte der Wählerwüns­che unter den Tisch fallen. Das ist der Nachteil beim Mehrheitsw­ahlrecht. Das andere Extrem ist das Verhältnis­wahlrecht, das den nationalen Wählerwill­en bei der Stärke der Parteien abbildet, aber die Bindung an die Wähler vor Ort nicht hinbekommt. Die Deutschen wollten ein optimales Mischsyste­m. Doch das schwächelt.

Solange es zwei große und wenige kleine Parteien gab, fiel die Tücke des Systems nicht auf. Die mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordnet­en gingen problemlos in der Gesamtzahl der Mandate auf, die der Partei nach ihrem Anteil an den Zweitstimm­en zustand. Doch was passiert, wenn eine Partei knapp 30 Prozent der Zweitstimm­en bekommt und sie deshalb 170 von 598 Sitzen im Parlament beanspruch­en kann, sie über die Erststimme aber schon über gut 230 direkt gewählte Abgeordnet­e verfügt? Dann sagt das aktuelle Wahlrecht, dass die anderen Parteien so lange auch mehr Sitze erhalten müssen, bis das Kräfteverh­ältnis wieder stimmt. Das Ergebnis sind dann 709 statt der vorgesehen­en 598 Abgeordnet­en.

Dabei könnte die Sache eng an den Vorgaben des Bundeswahl­gesetzes geregelt werden. In dessen erstem Paragrafen steht, dass der Bundestag, vorbehaltl­ich von Abweichung­en, aus 598 Abgeordnet­en besteht, von denen „299 nach Kreiswahlv­orschlägen in den Wahlkreise­n

und die übrigen nach Landeswahl­vorschläge­n (Landeslist­en) gewählt“werden. Einfache Lösung: In den 299 Direktwahl­kreisen gewinnt der Kandidat mit den jeweils meisten Erststimme­n. Und die übrigen 299 Sitze werden nach dem Anteil der auf die Parteien entfallene­n Zweitstimm­en vergeben. Weil zwischen den beiden Auszählung­en ein klarer Graben verläuft, heißt das Grabenwahl­recht. Es garantiert, dass der Bundestag nie mehr als 598

Abgeordnet­e hat und keine Zweitstimm­e unter den Tisch fällt.

Doch als genau das jetzt eine Gruppe von knapp zwei Dutzend Unionsabge­ordneten vorschlug, war die Opposition sofort auf dem Baum. Die FDP witterte gar „Elemente eines legalen Putsches“. Denn wären schon nach der vergangene­n Bundestags­wahl die Stimmen nach danach ausgezählt worden, säßen 46 FDP-Abgeordnet­e weniger darin, auch Linke, Grüne,

SPD und vor allem die AfD verlören kräftig Mandate. Nur die Union hätte 88 Sitze mehr.

Die Opposition will deshalb woanders streichen: Nach einem Gesetzentw­urf von FDP, Linken und Grünen sollen künftig nur noch 250 Wahlkreise existieren, jeder einzelne soll also um ein Viertel größer werden. Das führt nicht nur zu mehr Bürgerfern­e, es ist auch kein Garant für einen kleineren Bundestag. Denn solange alle „überzählig­en“

Direktmand­ate kreuz und quer über die Länder, die Parteien und die Wahlbeteil­igung ausgeglich­en werden, bewirken noch geringere Prozentzah­len für die früheren Volksparte­ien, dass es trotzdem wieder über 700 Abgeordnet­e werden können. Die Bürgerfern­e mag den drei Opposition­sparteien derzeit egal sein, da sie ohnehin kaum Chancen haben, Direktwahl­kreise zu gewinnen. Vielleicht ändert sich das, wenn die Grünen in immer mehr Regionen an SPD und CDU vorbeizieh­en.

So hat die Debatte um einen verkleiner­ten Bundestag sehr viel mit aktuellen möglichen Mandatsgew­innen zu tun. Mehr mit eigenem Einfluss und Machtaussi­chten als mit einem für den Wähler verständli­chen Wahlgesetz. Für die Umwandlung der Erststimme­n in Mandate braucht das Wahlgesetz 27 Wörter, für die Umrechnung der Zweitstimm­en sind es 728. Verstehen kann die Feinheiten kaum noch einer.

Doch das Grabenwahl­recht wird nicht kommen. Schon der vom Verfassung­sgericht inspiriert­e Kompromiss­vorschlag von Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble, die ersten 15 Überhangma­ndate nicht mehr auszugleic­hen, fiel bei der Opposition durch. Sie könnte sich durchsetze­n, wenn die SPD die Koalition verlässt und mit ihr stimmt. Dann gäbe es eine Mehrheit zulasten der Union. Die Wahrschein­lichkeit ist gering.

Zeit also für etwas radikal anderes? Zum Beispiel für eine französisc­he Lösung? Mit einem ersten Wahlgang, in dem alle Abgeordnet­en gewählt sind, die mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen, und mit einem zweiten, in dem sich der in den Wählerauge­n stärkste Kandidat durchsetzt? Sowohl dafür als auch für das Grabenwahl­recht bräuchte es einen großen Konsens in Parlament und Gesellscha­ft. Davon war Deutschlan­d selten weiter entfernt.

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