Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Befreiung der Mode
Grenzen wurden gesprengt, Regeln gebrochen, gewohnte Hierarchien auf den Kopf gestellt: Das vergangene Jahrzehnt war geprägt durch die Individualisierung und Demokratisierung der Mode. Der Versuch eines Rückblicks.
DÜSSELDORF Mode galt lange Zeit als das Terrain der schlecht gelaunten, weil immer hungrigen Frauen in hohen Stilettos. Zickige Moderedakteurinnen, (zu) dünne Models und homosexuelle Männer waren die Protagonisten einer humorlosen und elitären Welt, deren Regeln von einigen Wenigen erstellt und nach dem Top-down-Prinzip an das gemeine Volk weitergegeben wurden. Davon ist nicht mehr viel übrig – und das fängt schon bei den wichtigsten Events, den Fashion Weeks, an. Früher die exklusivsten und begehrtesten Veranstaltungen im Modekalender, werden die Modeschauen seit dem vergangenen Jahrzehnt millionenfach live am heimischen Computer geschaut. Modetrends entstehen nicht mehr nur in den Ateliers und auf den Laufstegen, sondern auch und vor allem auf der Straße. Streetstyle ist zum Inbegriff der neuen Modedynamik geworden: Nach dem Button-up-Prinzip
Die neuen Stars der Technologiebranche aus dem Silicon Valley definieren neu, was im beruflichen Kontext tragbar ist und was nicht
geben die Konsumenten vor, was sie tragen möchten, während die Designer auf Trends reagieren, die sie auf den Straßen der großen Metropolen beobachten.
Mehr Diversität
Designt wird nicht mehr für 20-Jährige mit Kleidergröße XXS, sondern für dicke, dünne, kleine, große, blonde, schwarze, feminine und androgyne Frauen. Und vielfältiger sind auch die Models geworden, die Schönheitsideale (neu) prägen. Eine Zäsur ist etwa die Bademoden-Ausgabe der „Sports Illustrated“, deren Cover 2016 Ashley Graham ziert. Mit einer Konfektionsgröße von 44 ist sie das erste Übergrößen-Model auf dem Titel der Zeitschrift. Zwei Jahre davor hat der US-amerikanische Modedesigner Rick Owens die Regeln des Laufstegs revolutioniert, indem er für seine Frühling/Sommer-Kollektion in Paris mehrheitlich dunkelhäutige Frauen über den Catwalk marschieren (!) lässt, deren Körperformen man auf den Laufstegen sonst nicht sieht: dick, stämmig, muskulös, klein – alles, nur nicht dünn und groß. Es sei ihm um die Darstellung vielfältigerer und real existierender Körperformen gegangen, sagt Owens über seine Show und läutet eine neue Ära der modischen Vielfalt auf den Laufstegen ein. Derweil macht ein Model namens Halima Aden aus den USA international Karriere, läuft weltweit für Designer und ziert das Cover der „Glamour“und der „Vogue“– stets mit Kopftuch.
Die neue Bequemlichkeit
Mit alten Regeln gebrochen wird nicht nur in den Modemagazinen, sondern auch im ganz normalen Alltag. Die aufstrebenden Stars der Technologiebranche aus dem Silicon Valley definieren neu, was im beruflichen Kontext tragbar ist und was nicht. Früher noch undenkbar und wenn überhaupt in kleineren Betrieben der Kreativbranche zulässig, gelten Kapuzenpullover, Jeans und Sportschuhe in fast allen Berufen mittlerweile als akzeptabel – vom großflächigen Verschwinden der Krawatten mal ganz abgesehen. Ähnlich entspannt gehen Frauen an ihre Garderobe heran: Sportschuhe ersetzen immer mehr Pumps und Stilettos. Und auch außerhalb der Büroräume geht es bequemer zu: Sportbekleidung wird zur Alltagskleidung. Wenn schon keinen klassischen Jogginganzug, so tragen doch viele Baseballjacken und Hosen mit Seitenstreifen oder Tunnelzug – auch im Büro.
Die Instagramisierung
Dass die Karten des Modegeschäfts neu gemischt werden, liegt auch an den Sozialen Netzwerken Instagram und Pinterest. Als Plattform hat Instagram Menschen Macht, Bedeutung und eine neue Berufsbezeichnung gegeben: Influencer wie Caro Daur und Bianca Heinicke erreichen mit ihren Millionen Followern deutlich mehr Reichweite als manche Werbekampagne je erreichen könnte. Entsprechend attraktiv sind sie als authentisch wirkende Werbegesichter für Modefirmen, entsprechend lukrativ sind die Verträge, die Daur und Co. abschließen. Und auch indirekte Zusammenarbeit ist erwünscht: Ein Foto, das eine Influencerin von dem Besuch einer Laufstegshow postet, ist für viele Modehäuser mehr wert als eine noch so differenzierte Modekritik in der Modezeitschrift „Vogue“. Doch auch ohne den Umweg über Influencer können Modemarken von Social Media profitieren, indem sie direkt mit ihren Konsumenten kommunizieren: eine millionenfache Direktvermarktung, die vor diesem Jahrzehnt noch undenkbar war.
Hipster und das Revival der 90er Der Hipster-Mann, er hat sie alle beherrscht: die Straßen in den Metropolen, die Laufstege der Modedesigner, die Fotos in den Sozialen Netzwerken. Er ist ein paradoxes Wesen: Er wollte sich doch durch sein ganz individuelles Szenebewusstsein vom Mainstream absetzen und kreierte dabei durch spezifische Codes einen neuen Mainstream, der sich ziemlich wenig individuell und recht uniform an jedem zweiten Mann in einer europäischen Großstadt finden ließ. Woran man ihn erkannte: Vollbart, Hornbrille, grob gemustertes Flanellhemd, hockgekrempelte Jeans oder Chinos, Sneakers und immer, immer, immer, bei Regen, Hagel und
Schneesturm: freigelegte Fußknöchel. In seiner fortgeschrittenen Version trägt der Hipster zudem jederzeit eine Wollmütze auf dem Kopf und einen Jutebeutel unterm Arm.
Insgesamt muss das Outfit einen etwas nachlässigen Eindruck erwecken. Bloß nicht schick, hergemacht und auf keinen Fall elegant darf man wirken, eher schon etwas träge und leicht verwahrlost. Etwas später und besonders während der zweiten Hälfte der 2010er fühlt sich die Gegenwart dann an wie eine Reise in die jüngere Vergangenheit: Bauchfreie Oberteile, Jeans von Kopf bis Fuß, Fischerhüte, Plateau-Sneakers und Marken wie Fila, Kappa, Champion, Carhartt und Levi’s sorgen für eine Renaissance der 1990er Jahre.
Die große Politisierung
Natürlich ist und war Mode schon immer politisch. Mal war bestimmte Kleidung nur bestimmten Schichten vorbehalten, mal richteten sich modische Codes gegen ein bestehendes Establishment. Selten aber schien die Modewelt so politisiert wie in diesem Jahrzehnt. Es sind die Themen der Zeit, die in Kleidung und Stil ihren Widerhall finden: Feminismus, Umweltschutz, Nachhaltigkeit und der Aufstieg des Populismus. 2014 macht Karl Lagerfeld wie so oft den gigantischen Anfang und setzt zum Abschluss der Pariser Fashion Week politische Statements mit seiner Chanel-Show in Szene.
Über den Laufsteg laufen Models mit Megafon und Transparenten, auf denen „Make fashion not war“, „History is her story“und „Boys Should Get Pregnant, Too“steht. Einen neuen Höhepunkt ihrer Karriere erlebt die britische Designerin Vivienne Westwood, die schon die Punk-Bewegung laufstegfähig gemacht hatte. In ihren 2010er Kollektionen spricht sie sich gegen den Brexit und für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum, für Klimaschutz und für den WikiLeaks-Gründer Julian Assange aus, während im mehr als fünftausend Kilometer entfernten New York Models
Nachhaltigkeit ist zu einem der wichtigsten Kriterien avanciert, von dem die Modernität einer Modemarke abhängt
in Abgrenzung zum US-Präsidenten Donald Trump („Make America great again“) „Make America New York“-Hüte auf dem Laufsteg tragen.
Doch der Zeitgeist verlangt neben starken Slogans auch ein neues Umweltbewusstsein, und Modehersteller beginnen, ihre eigene Verantwortung in Sachen Nachhaltigkeit zu hinterfragen. An der Speerspitze dieser Bewegung thront Stella McCartney, Modedesignerin und Tochter von Paul McCartney. Es ist das Jahrzehnt der Vordenkerinnen wie sie, die auf Pelz und Leder verzichtet, für die Luxusmode verantwortungsvoll und ethisch zugleich sein muss, die Re- und Upcycling in ihre Arbeitsweise integriert hat und die für transparente Produktionsketten steht. Nachhaltigkeit ist zu einem der wichtigsten Kriterien avanciert, von dem die Modernität einer Marke abhängt.
Was bleibt?
Was von den 2010ern übrig bleibt, wird vor allem die Frage nach dem „Wie“und weniger nach dem „Was“sein. Einzelne Trends, etwa das Revival der 90er Jahre, klobige Sportschuhe, Handykette und politische Statements auf T-Shirts, werden ziemlich sicher wieder verschwinden. Bleiben und sich verstärken werden die Bemühungen um nachhaltigere Produktion und Ethik in der Mode. Es werden noch vielfältigere Models auf den Laufstegen und in Werbekampagnen zu sehen sein, und der Einfluss von Social Media und Influencern wird steigen. Ziemlich sicher ist, dass das Thema Genderfluidity die Modekollektionen der nächsten Jahre deutlicher prägen wird. Denn die Designer experimentieren seit dem vergangenen Jahrzehnt stärker denn je mit der Überbrückung der Grenzen zwischen männlich und weiblich.
Immer wieder kreieren sie reine Unisex-Kollektionen, die von Männern ebenso getragen werden können wie von Frauen – ganz abgesehen davon, dass sie so auch Geschlechtsidentitäten aus dem Transgender-Spektrum einbeziehen, die sich weder ausschließlich männlich noch weiblich definieren. Auch bekannte Modeketten wie Zara haben das Thema bereits auf dem Radar und sich an kleineren Sonderkollektionen für alle Geschlechter ausprobiert – an dieser Front wird im neuen Jahrzehnt sicher noch mehr passieren.