Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Wenn die Technik zur Gefahr wird
Vieles ist im Sport schneller, besser und spektakulärer geworden. Doch nicht immer ist Fortschritt in der Entwicklung auch positiv für Athleten.
Schneller, spektakulärer, schöner – Sport soll für Zuschauer und Sponsoren immer attraktiver werden. Material, technische Hilfsmittel, Sportstätten und Trainingsmethoden werden stetig verbessert und angepasst. Durch die Digitalisierung können Leistungsdaten der Athleten schneller und besser erfasst und wie im Beachvolleyball oder Handball sogar in Echtzeit an die Fans vermittelt werden. Das macht den Sport nahbarer für die Zuschauer und bietet den Trainern und Athleten neue Anhaltspunkte fürs Training.
Teams und Sportler rechnen sich aber natürlich auch durch besseres Material und neue Technik einen Wettbewerbsvorteil aus. Deswegen tüfteln sie mit Entwicklern oder eigenständig an Neuerungen – zum Beispiel für ihre Sportgeräte oder -kleidung. Im vergangenen Jahrzehnt sind viele Sportarten durch solche Neuerungen geprägt worden.
Die 2010er waren ein Jahrzehnt der Technisierung im Sport. Das hat zum Beispiel im Schwimmen oder Skifliegen zu Rekorden geführt, die vor Jahren noch als Größenwahn abgetan worden waren.
Radrennfahrer sind dank HighTech-Trikots und leichterer Räder schneller geworden. Bessere Helme machen den Sport sicherer. Läufer freuen sich über schnellere Kunststoffbahnen und lassen Schuhe entwickeln, die noch ein paar Hundertstel-Sekunden zu ihrem Vorteil herausholen. Bobfahrer und Rennrodler können auf künstlich vereisten Bahnen mehr Tempo aufnehmen als früher. Für die Entwicklung noch besserer Fahrgeräte arbeiten nicht nur die Deutschen mit Automobilherstellern und ganzen Technikteams zusammen. Auch die alpinen Skirennfahrer nehmen dank eisiger Pisten und neuer Ski mehr Geschwindigkeit auf. Die inzwischen eingeführten Rückenairbags sollen bei Stürzen mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 Kilometern pro Stunde zumindest allzu schwere Verletzungen der Wirbelsäule verhindern.
Sportartikelfirmen, Universitäten und Automobilhersteller bieten Rad- und Motorsportteams, Wintersportlern, Schwimmern oder Leichtathleten längst ideale Laborbedingungen für ihre Materialtests. Das macht die Bewertung neuer Materialien auch außerhalb des Wettkampfgeschehens möglich. Zum
Beispiel im Windkanal, wo so manches Trikot oder Autoteil seine aerodynamische Tauglichkeit unter Beweis stellen muss.
Im Motorsport scheinen die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung am und im Rennwagen unendlich. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Optik und Technik der Autos massiv verändert, genauso wie das Reglement. Getrieben von den Herstellern in der Autobranche gab es zahlreiche neue Entwicklungen in Technik und Material. Die Heckflügel können seit 2011 verstellt werden, um Geschwindigkeit zu gewinnen. Drag Reduction System (DRS) nennt sich das und darf in bestimmten Zonen eingesetzt werden, um den Abstand auf den Vorausfahrenden zu verringern.
2014 wurden die Motoren verändert. Zahlreiche technische Änderungen an den Maßen und Materialien
der Autos wurden eingeführt – auch bei den Reifen. Die bleiben ein kritisches Thema in der Formel 1, müssen sie doch auf die Neuerungen an den Autos abgestimmt werden und den unterschiedlichen Anforderungen der Strecken und Teams gleichermaßen genügen. Das ist in der Vergangenheit nicht immer geglückt. In den Jahren 2013 und 2015 lösten auffällig viele Reifenplatzer fast den Boykott einiger Fahrer aus. Die Teams gaben Alleinlieferant Pirelli die Schuld, der Reifenhersteller machte die Konstruktion der Fahrzeuge als Ursache aus.
Die Reifenproblematik in der Formel 1 ist nur ein Beispiel dafür, dass technische Verbesserungen in einem Bereich negative Auswirkungen auf einen anderen haben können. Radsportler beschweren sich, dass die schmalen Reifen und leichten Rahmen der Räder das Sturzrisiko
erhöhen.
Im Skisport nehmen schwere Knieverletzungen zu. Bei den Alpinen, weil die neuen Bindungen zwischen Schuh und Ski inzwischen so starr sind, dass Bänder und Gelenke in den Beinen bei harten Schlägen keine Möglichkeit haben, auszuweichen. Sie reißen, brechen oder verspringen stattdessen.
Bei den Skispringern hat die Zahl der Kreuzbandrisse in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. „Daran sind wir nicht ganz unschuldig“, sagte Walter Hofer, Rennleiter des Weltverbandes Fis, vor Beginn dieser Saison. Und er hat auch eine Ursache ausgemacht: Die Skispringer nehmen in Spuren aus Eis und Keramik Anlauf, nicht mehr in Schneespuren. Die Ski wackeln darin kaum noch, skifahrerische Fähigkeiten sind beim Anlauf kaum noch gefragt. Das hat ganz neue Möglichkeiten bei der Ski-Entwicklung eröffnet. „Die Skisprung-Ski werden nicht mehr zum Skifahren, sondern nur noch zum Fliegen gebaut“, sagte Hofer.
Das macht die Sportler schneller, ihre Sprünge weiter. Das macht die Ski aber auch weniger gut lenkbar bei der Ausfahrt und den Druck auf die Knie bei der Landung höher. Die Verletzungsproblematik habe sich dadurch von der Anlauf- und Flugphase in die Landung verlagert.
Die Fis will sich dem Problem annehmen. Neue Auflagen für Schuhe, Bindungen und Ski könnten eine Lösung sein. Weniger Anlauf und damit geringere Weiten ebenfalls. Andreas Bauer, Bundestrainer der Skispringerinnen, muss in diesem Winter auf vier Athletinnen verzichten, die sich am Knie verletzt haben. Er hofft, dass es für den nächsten Winter Verbesserungen
gibt. Er sitzt selbst in der Materialkommission der Fis und kann so Einfluss nehmen. „Ich denke, es ist einfach notwendig, im Frühjahr alles auf den Prüfstand zu stellen“, sagte er.
Doch es gibt auch andere Gründe, neue Materialien zu verbieten. Im Schwimmen sorgten in den 2000er Jahren Ganzkörperanzüge für Aufsehen. Der Australier Ian Thorpe setzte damit neue Bestmarken. Der Start einer Materialschlacht um die schnellsten Anzüge aus Hightech-Kunststoffen. Einige imitierten die Haut von Haien. Verbesserten so die Gleitfähigkeit der Sportler im Wasser. Die Fina, der Weltschwimmverband, beendete die Materialschlacht. Seit 2010 sind keine Ganzkörperanzüge mehr erlaubt und nur noch welche aus textilen Materialien.
Zum sportlichen Wettbewerb gehört auch, dass derjenige, der besseres Material entwickelt, einen Vorteil hat – zumindest dann, wenn er sich an die Regeln hält. Problematisch wird es dann, wenn Konkurrenten dauerhaft der Zugang zu Material verwehrt wird, dessen Wettbewerbsvorteil so groß ist, dass er durch reines sportliches Talent nicht wettzumachen ist.
Die Entwicklung neuer Technik und neuen Materials bringt es mit sich, dass sie teuer ist. Viele Hightech-Materialien sind kostspielig. Das macht es ärmeren Sportverbänden und Nationen unmöglich, wettbewerbsfähig zu sein. In Deutschland beauftragen Bundesregierung und Sportverbände zum Beispiel Institute zur Entwicklung im Sport.
Im Radsport oder in der Leichtathletik machen nicht selten finanzstarke Sponsoren den entscheidenden Vorteil aus. Einige Sportverbände regulieren das Material der Athleten deswegen stark. In anderen Bereichen setzen Sportverbände aber genau auf die Innovationen einzelner Teams oder Hersteller. Denn die Erfindungen einzelner können am Ende auch eine ganze Sportart besser machen.
Und so wird es auch im kommenden Jahrzehnt nicht nur darum gehen, wer der beste Athlet ist, sondern auch darum, wer das beste Material zur Verfügung hat.