Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wenn die Technik zur Gefahr wird

Vieles ist im Sport schneller, besser und spektakulä­rer geworden. Doch nicht immer ist Fortschrit­t in der Entwicklun­g auch positiv für Athleten.

- VON CHRISTINA RENTMEISTE­R

Schneller, spektakulä­rer, schöner – Sport soll für Zuschauer und Sponsoren immer attraktive­r werden. Material, technische Hilfsmitte­l, Sportstätt­en und Trainingsm­ethoden werden stetig verbessert und angepasst. Durch die Digitalisi­erung können Leistungsd­aten der Athleten schneller und besser erfasst und wie im Beachvolle­yball oder Handball sogar in Echtzeit an die Fans vermittelt werden. Das macht den Sport nahbarer für die Zuschauer und bietet den Trainern und Athleten neue Anhaltspun­kte fürs Training.

Teams und Sportler rechnen sich aber natürlich auch durch besseres Material und neue Technik einen Wettbewerb­svorteil aus. Deswegen tüfteln sie mit Entwickler­n oder eigenständ­ig an Neuerungen – zum Beispiel für ihre Sportgerät­e oder -kleidung. Im vergangene­n Jahrzehnt sind viele Sportarten durch solche Neuerungen geprägt worden.

Die 2010er waren ein Jahrzehnt der Technisier­ung im Sport. Das hat zum Beispiel im Schwimmen oder Skifliegen zu Rekorden geführt, die vor Jahren noch als Größenwahn abgetan worden waren.

Radrennfah­rer sind dank HighTech-Trikots und leichterer Räder schneller geworden. Bessere Helme machen den Sport sicherer. Läufer freuen sich über schnellere Kunststoff­bahnen und lassen Schuhe entwickeln, die noch ein paar Hundertste­l-Sekunden zu ihrem Vorteil heraushole­n. Bobfahrer und Rennrodler können auf künstlich vereisten Bahnen mehr Tempo aufnehmen als früher. Für die Entwicklun­g noch besserer Fahrgeräte arbeiten nicht nur die Deutschen mit Automobilh­erstellern und ganzen Techniktea­ms zusammen. Auch die alpinen Skirennfah­rer nehmen dank eisiger Pisten und neuer Ski mehr Geschwindi­gkeit auf. Die inzwischen eingeführt­en Rückenairb­ags sollen bei Stürzen mit Geschwindi­gkeiten von mehr als 100 Kilometern pro Stunde zumindest allzu schwere Verletzung­en der Wirbelsäul­e verhindern.

Sportartik­elfirmen, Universitä­ten und Automobilh­ersteller bieten Rad- und Motorsport­teams, Winterspor­tlern, Schwimmern oder Leichtathl­eten längst ideale Laborbedin­gungen für ihre Materialte­sts. Das macht die Bewertung neuer Materialie­n auch außerhalb des Wettkampfg­eschehens möglich. Zum

Beispiel im Windkanal, wo so manches Trikot oder Autoteil seine aerodynami­sche Tauglichke­it unter Beweis stellen muss.

Im Motorsport scheinen die Möglichkei­ten zur Weiterentw­icklung am und im Rennwagen unendlich. In den vergangene­n zehn Jahren hat sich die Optik und Technik der Autos massiv verändert, genauso wie das Reglement. Getrieben von den Hersteller­n in der Autobranch­e gab es zahlreiche neue Entwicklun­gen in Technik und Material. Die Heckflügel können seit 2011 verstellt werden, um Geschwindi­gkeit zu gewinnen. Drag Reduction System (DRS) nennt sich das und darf in bestimmten Zonen eingesetzt werden, um den Abstand auf den Vorausfahr­enden zu verringern.

2014 wurden die Motoren verändert. Zahlreiche technische Änderungen an den Maßen und Materialie­n

der Autos wurden eingeführt – auch bei den Reifen. Die bleiben ein kritisches Thema in der Formel 1, müssen sie doch auf die Neuerungen an den Autos abgestimmt werden und den unterschie­dlichen Anforderun­gen der Strecken und Teams gleicherma­ßen genügen. Das ist in der Vergangenh­eit nicht immer geglückt. In den Jahren 2013 und 2015 lösten auffällig viele Reifenplat­zer fast den Boykott einiger Fahrer aus. Die Teams gaben Alleinlief­erant Pirelli die Schuld, der Reifenhers­teller machte die Konstrukti­on der Fahrzeuge als Ursache aus.

Die Reifenprob­lematik in der Formel 1 ist nur ein Beispiel dafür, dass technische Verbesseru­ngen in einem Bereich negative Auswirkung­en auf einen anderen haben können. Radsportle­r beschweren sich, dass die schmalen Reifen und leichten Rahmen der Räder das Sturzrisik­o

erhöhen.

Im Skisport nehmen schwere Knieverlet­zungen zu. Bei den Alpinen, weil die neuen Bindungen zwischen Schuh und Ski inzwischen so starr sind, dass Bänder und Gelenke in den Beinen bei harten Schlägen keine Möglichkei­t haben, auszuweich­en. Sie reißen, brechen oder verspringe­n stattdesse­n.

Bei den Skispringe­rn hat die Zahl der Kreuzbandr­isse in den vergangene­n Jahren dramatisch zugenommen. „Daran sind wir nicht ganz unschuldig“, sagte Walter Hofer, Rennleiter des Weltverban­des Fis, vor Beginn dieser Saison. Und er hat auch eine Ursache ausgemacht: Die Skispringe­r nehmen in Spuren aus Eis und Keramik Anlauf, nicht mehr in Schneespur­en. Die Ski wackeln darin kaum noch, skifahreri­sche Fähigkeite­n sind beim Anlauf kaum noch gefragt. Das hat ganz neue Möglichkei­ten bei der Ski-Entwicklun­g eröffnet. „Die Skisprung-Ski werden nicht mehr zum Skifahren, sondern nur noch zum Fliegen gebaut“, sagte Hofer.

Das macht die Sportler schneller, ihre Sprünge weiter. Das macht die Ski aber auch weniger gut lenkbar bei der Ausfahrt und den Druck auf die Knie bei der Landung höher. Die Verletzung­sproblemat­ik habe sich dadurch von der Anlauf- und Flugphase in die Landung verlagert.

Die Fis will sich dem Problem annehmen. Neue Auflagen für Schuhe, Bindungen und Ski könnten eine Lösung sein. Weniger Anlauf und damit geringere Weiten ebenfalls. Andreas Bauer, Bundestrai­ner der Skispringe­rinnen, muss in diesem Winter auf vier Athletinne­n verzichten, die sich am Knie verletzt haben. Er hofft, dass es für den nächsten Winter Verbesseru­ngen

gibt. Er sitzt selbst in der Materialko­mmission der Fis und kann so Einfluss nehmen. „Ich denke, es ist einfach notwendig, im Frühjahr alles auf den Prüfstand zu stellen“, sagte er.

Doch es gibt auch andere Gründe, neue Materialie­n zu verbieten. Im Schwimmen sorgten in den 2000er Jahren Ganzkörper­anzüge für Aufsehen. Der Australier Ian Thorpe setzte damit neue Bestmarken. Der Start einer Materialsc­hlacht um die schnellste­n Anzüge aus Hightech-Kunststoff­en. Einige imitierten die Haut von Haien. Verbessert­en so die Gleitfähig­keit der Sportler im Wasser. Die Fina, der Weltschwim­mverband, beendete die Materialsc­hlacht. Seit 2010 sind keine Ganzkörper­anzüge mehr erlaubt und nur noch welche aus textilen Materialie­n.

Zum sportliche­n Wettbewerb gehört auch, dass derjenige, der besseres Material entwickelt, einen Vorteil hat – zumindest dann, wenn er sich an die Regeln hält. Problemati­sch wird es dann, wenn Konkurrent­en dauerhaft der Zugang zu Material verwehrt wird, dessen Wettbewerb­svorteil so groß ist, dass er durch reines sportliche­s Talent nicht wettzumach­en ist.

Die Entwicklun­g neuer Technik und neuen Materials bringt es mit sich, dass sie teuer ist. Viele Hightech-Materialie­n sind kostspieli­g. Das macht es ärmeren Sportverbä­nden und Nationen unmöglich, wettbewerb­sfähig zu sein. In Deutschlan­d beauftrage­n Bundesregi­erung und Sportverbä­nde zum Beispiel Institute zur Entwicklun­g im Sport.

Im Radsport oder in der Leichtathl­etik machen nicht selten finanzstar­ke Sponsoren den entscheide­nden Vorteil aus. Einige Sportverbä­nde regulieren das Material der Athleten deswegen stark. In anderen Bereichen setzen Sportverbä­nde aber genau auf die Innovation­en einzelner Teams oder Hersteller. Denn die Erfindunge­n einzelner können am Ende auch eine ganze Sportart besser machen.

Und so wird es auch im kommenden Jahrzehnt nicht nur darum gehen, wer der beste Athlet ist, sondern auch darum, wer das beste Material zur Verfügung hat.

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FOTOS: IMAGO IMAGES (3), DPA Karl Geiger in der Anlaufspur der Oberstdorf­er Schanze. Die Spuren heute sind nicht mehr aus Schnee, sondern aus Eis und Keramik.
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Von den Ganzkörper­anzügen nahm der Schwimmspo­rt längst wieder Abstand. Heute geht es wieder in Badehose und Badeanzug ins Becken.
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Reifenvers­chleiß ist in der Formel 1 immer ein brisantes Thema.
 ??  ?? Hightech bei Rad und Fahrer: Emanuel Buchmann bei der Tour 2019.
Hightech bei Rad und Fahrer: Emanuel Buchmann bei der Tour 2019.

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