Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Stadt der ausgepressten Zitrone
REMSCHEID Das nächste Jahr könnte für Remscheid das Ende des Zeitalters der ausgepressten Zitrone bedeuten. Dummerweise liegt das nicht in der Hand der Remscheider selbst. Wenn aber in Berlin und auf Landesebene Entscheidungen fallen, die für ein Durchatmen sorgen, könnte auch das Bild der bergischen Oberbürgermeister mit Bettlerkutte im Haus der Geschichte in Bonn mit einer anderen Bildunterschrift versehen werden: Sie haben die Kutte etliche Jahre getragen, 2020 zogen sie sie aus.
Wenn die Große Koalition endlich beschließt, die Altschulden von über 70 Kommunen in einem Fond zu übernehmen, wäre der Würgegriff gelöst. Nicht eine schlechte Haushaltspolitik hat in erster Linie zu einer Überschuldung von aktuell etwa 560 Millionen Euro geführt, für die Remscheid jährlich sieben Millionen Euro an Zinsen aufbringen muss. Hauptgrund für dieses Finanzdesaster ist die Berliner Politik, die Gesetze beschlossen hat, die die Kommune mit Krediten bezahlen musste. Zum Beispiel den gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz oder den Solidaritätszuschlag. Wenn an dieser Front Ruhe und Klarheit herrschen würde, könnte 2020 als ein Wendejahr in die Geschichte Remscheids eingehen – nach nunmehr fast 30 Jahren Niedergang.
Der Niedergang hat viele Gesichter. Auch das der Sporthalle der Albert-Einstein-Gesamtschule. In den 60er Jahren erbaut, verströmte diese Halle Aufbruch und Optimismus. Der Verfall dieses Gebäudetraktes steht für eine Politik, die nicht mehr die Substanz erhalten konnte, sondern meist nur noch notdürftig die Funktionalität. Die Halle symbolisiert zudem die Verarmung der Stadt, die es hinbekommen musste, den Verlust von 10.000 Arbeitsplätzen zu verkraften. Das sprengte den Haushalt. Die beschämende Sporthalle wird demnächst abgerissen. An der Brüderstraße entsteht eine großzügige Dreifach-Sporthalle. Das ist ein gutes Zeichen. Ein überfälliges Zeichen an alle Bürger. Es ist dieser Stadt zu wünschen, dass es noch mehr solcher Zeichen des Aufbruchs im nächsten Jahr geben wird. Und danach sieht es aus.
Das Bild im Haus der Geschichte zeigt die drei Oberbürgermeister als Bittsteller. Das ist keine angenehme Haltung. Das ist bei tieferer Betrachtung entwürdigend, wenn eine Region mit knapp 600.000 Einwohnern irgendwo als Bittsteller auftreten muss. Aber die Philosophie des Neoliberalismus kennt den Wert der Solidarität nicht mehr.
In der Innenstadt zeichnen sich
Veränderungen ab, wenn auch in kleinen und langsamen Schritten. In den Büros der Stadtentwickler ist ein Umdenken zu beobachten, nachdem jahrelang immer wieder der eindeutig falsche Weg eingeschlagen wurde.
Manchmal sind es die kleinen Zeichen, die das Ende des Zeitalters der ausgepressten Zitrone annoncieren. Im nächsten Sommer kann man auf der Alten Bismarckstraße draußen sitzen, weil es dort Terrassenbänke gibt. Wunderbar. Zu den großen Zeichen gehört die Fertigstellung des Berufsbildungszentrums (BZI), auf das sich alle freuen können. Es gehört zu den Aushängeschildern für den Geist dieser Stadt, die früh erkannt hat, dass ohne gute Qualifizierung der Mitarbeiter der bescheidene Wohlstand in Remscheid nicht zu halten ist. Das BZI weckt Hoffnungen.
Und was wird aus dem Freibad im Eschbachtal? Der Stadt fehlt das Geld für seine Sanierung. Also dicht machen? Wer Schwimmen gehen will, kann doch ins H2O gehen. Diese Bäderlandschaft ist, etwas krass formuliert, das Bad der Besserverdienenden. Remscheid zählt nicht zu den Städten der Besserverdienenden, sondern zu den Orten, in der über zehn Prozent der Menschen von Transferleistungen leben. Die können sich einen Besuch im H20 nicht leisten. Die Politik ist gefordert, eine stabile Lösung zu finden für diesen heiteren Ort der Begegnung. Von diesen heiteren Orten kann Remscheid nicht genügend haben.