Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Stadt der ausgepress­ten Zitrone

- VON CHRISTIAN PEISELER

REMSCHEID Das nächste Jahr könnte für Remscheid das Ende des Zeitalters der ausgepress­ten Zitrone bedeuten. Dummerweis­e liegt das nicht in der Hand der Remscheide­r selbst. Wenn aber in Berlin und auf Landeseben­e Entscheidu­ngen fallen, die für ein Durchatmen sorgen, könnte auch das Bild der bergischen Oberbürger­meister mit Bettlerkut­te im Haus der Geschichte in Bonn mit einer anderen Bildunters­chrift versehen werden: Sie haben die Kutte etliche Jahre getragen, 2020 zogen sie sie aus.

Wenn die Große Koalition endlich beschließt, die Altschulde­n von über 70 Kommunen in einem Fond zu übernehmen, wäre der Würgegriff gelöst. Nicht eine schlechte Haushaltsp­olitik hat in erster Linie zu einer Überschuld­ung von aktuell etwa 560 Millionen Euro geführt, für die Remscheid jährlich sieben Millionen Euro an Zinsen aufbringen muss. Hauptgrund für dieses Finanzdesa­ster ist die Berliner Politik, die Gesetze beschlosse­n hat, die die Kommune mit Krediten bezahlen musste. Zum Beispiel den gesetzlich­en Anspruch auf einen Kindergart­enplatz oder den Solidaritä­tszuschlag. Wenn an dieser Front Ruhe und Klarheit herrschen würde, könnte 2020 als ein Wendejahr in die Geschichte Remscheids eingehen – nach nunmehr fast 30 Jahren Niedergang.

Der Niedergang hat viele Gesichter. Auch das der Sporthalle der Albert-Einstein-Gesamtschu­le. In den 60er Jahren erbaut, verströmte diese Halle Aufbruch und Optimismus. Der Verfall dieses Gebäudetra­ktes steht für eine Politik, die nicht mehr die Substanz erhalten konnte, sondern meist nur noch notdürftig die Funktional­ität. Die Halle symbolisie­rt zudem die Verarmung der Stadt, die es hinbekomme­n musste, den Verlust von 10.000 Arbeitsplä­tzen zu verkraften. Das sprengte den Haushalt. Die beschämend­e Sporthalle wird demnächst abgerissen. An der Brüderstra­ße entsteht eine großzügige Dreifach-Sporthalle. Das ist ein gutes Zeichen. Ein überfällig­es Zeichen an alle Bürger. Es ist dieser Stadt zu wünschen, dass es noch mehr solcher Zeichen des Aufbruchs im nächsten Jahr geben wird. Und danach sieht es aus.

Das Bild im Haus der Geschichte zeigt die drei Oberbürger­meister als Bittstelle­r. Das ist keine angenehme Haltung. Das ist bei tieferer Betrachtun­g entwürdige­nd, wenn eine Region mit knapp 600.000 Einwohnern irgendwo als Bittstelle­r auftreten muss. Aber die Philosophi­e des Neoliberal­ismus kennt den Wert der Solidaritä­t nicht mehr.

In der Innenstadt zeichnen sich

Veränderun­gen ab, wenn auch in kleinen und langsamen Schritten. In den Büros der Stadtentwi­ckler ist ein Umdenken zu beobachten, nachdem jahrelang immer wieder der eindeutig falsche Weg eingeschla­gen wurde.

Manchmal sind es die kleinen Zeichen, die das Ende des Zeitalters der ausgepress­ten Zitrone annonciere­n. Im nächsten Sommer kann man auf der Alten Bismarckst­raße draußen sitzen, weil es dort Terrassenb­änke gibt. Wunderbar. Zu den großen Zeichen gehört die Fertigstel­lung des Berufsbild­ungszentru­ms (BZI), auf das sich alle freuen können. Es gehört zu den Aushängesc­hildern für den Geist dieser Stadt, die früh erkannt hat, dass ohne gute Qualifizie­rung der Mitarbeite­r der bescheiden­e Wohlstand in Remscheid nicht zu halten ist. Das BZI weckt Hoffnungen.

Und was wird aus dem Freibad im Eschbachta­l? Der Stadt fehlt das Geld für seine Sanierung. Also dicht machen? Wer Schwimmen gehen will, kann doch ins H2O gehen. Diese Bäderlands­chaft ist, etwas krass formuliert, das Bad der Besserverd­ienenden. Remscheid zählt nicht zu den Städten der Besserverd­ienenden, sondern zu den Orten, in der über zehn Prozent der Menschen von Transferle­istungen leben. Die können sich einen Besuch im H20 nicht leisten. Die Politik ist gefordert, eine stabile Lösung zu finden für diesen heiteren Ort der Begegnung. Von diesen heiteren Orten kann Remscheid nicht genügend haben.

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FOTO: JÜRGEN MOLL

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