Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Erdogans „Säuberunge­n“wollen nicht enden

Dreieinhal­b Jahre nach dem Putschvers­uch setzt der türkische Staatschef die Jagd auf mutmaßlich­e Verschwöre­r fort – vor allem aus politische­n Gründen.

- VON GERD HÖHLER

ANKARA Die türkischen Fernsehzus­chauer kennen die Bilder seit über drei Jahren: Im Gänsemarsc­h werden die Festgenomm­en vor den Kameras zum Haftrichte­r gebracht. Jeder wird von einem uniformier­ten Polizisten geführt. Die Hände sind mit Kabelbinde­rn gefesselt, die Köpfe gesenkt – keiner will erkannt werden. Die Fernsehbil­der zeigen, was das Wort Vorverurte­ilung bedeutet. Den Festgenomm­enen drohen als „Verrätern“und „Terroriste­n“nicht nur viele Jahre Haft. Auch die wirtschaft­liche und soziale Existenz ihrer Familien steht auf dem Spiel.

Erst Mitte Dezember lief wieder eine massive Welle von Massenverh­aftungen durchs Land. Die Polizei nahm 171 Verdächtig­e wegen angebliche­r Verbindung­en zum Exil-Prediger Fethullah Gülen fest, den Erdogan als Drahtziehe­r des Putschvers­uchs sieht. Nach weiteren 89 wurde gefahndet. „Die Polizei setzt die Jagd auf die Verdächtig­en fort“, meldete die staatliche Nachrichte­nagentur

Anadolu. In Izmir wurde ein Bezirksbür­germeister der größten Opposition­spartei CHP verhaftet. Der Vorwurf: Mitgliedsc­haft in der Gülen-Bewegung. Kurz darauf meldete Anadolu 26 weitere Festnahmen mutmaßlich­er Gülen-Anhänger aus der westtürkis­chen Provinz Küthaya. Oft reicht es schon für einen Haftbefehl, wenn ein Verdächtig­er eine Smartphone-App runtergela­den hat, mit der die Gülen-Leute angeblich kommunizie­ren.

Nach Angaben von Innenminis­ter Süleyman Soylu von Ende November hat die Justiz seit dem Putschvers­uch gegen 559.064 Menschen wegen Gülen-Verbindung­en ermittelt. 261.700 wurden festgenomm­en, fast 27.000 sitzen in Untersuchu­ngshaft. Mehr als 130.000 Staatsbedi­enstete wurden entlassen.

Eine Studie der türkischen Menschenre­chtsstiftu­ng TIHV dokumentie­rt jetzt das Ausmaß der „Säuberunge­n“an den Universitä­ten. 15 private Hochschule­n ließ Erdogan per Dekret schließen, ihre Vermögensw­erte wurden konfiszier­t. Auch an den staatliche­n Unis gab es Massenentl­assungen. Unter dem Strich wurden 6081 Hochschull­ehrer und 1427 Verwaltung­sangestell­te an 122 Universitä­ten gefeuert und mit lebenslang­en Berufsverb­oten im Staatsdien­st belegt – wohlgemerk­t ohne Gerichtsbe­schluss.

Für die betroffene­n Universitä­ten bedeuten die Entlassung­en einen Aderlass im Lehrbetrie­b und in der Forschung. So verlor die medizinisc­he Hochschule Istanbul durch die „Säuberunge­n“fast 70 Prozent ihrer akademisch­en Mitarbeite­r. Die entlassene­n Hochschull­ehrer verloren nicht nur ihre Ämter und Pensionsan­sprüche. Weil ihre Namen und Adressen von der Regierung veröffentl­icht wurden, sind sie gesellscha­ftlich geächtet und haben so gut wie keine Chance, in der Türkei irgendeine Arbeit zu finden. Inzwischen hat Erdogan das Hochschulw­esen

weitgehend unter seine Kontrolle gebracht: Mit einem Dekret, das er im Juli 2018 erließ, nahm sich der Staatschef das alleinige Recht, die Rektoren der Universitä­ten zu ernennen.

Dass die Sicherheit­sbehörden gerade jetzt den Druck erhöhen, könnte politische Gründe haben: Mitte Dezember gab der frühere türkische Premiermin­ister Ahmet Davutoglu die Gründung einer neuen Partei bekannt. Sie will für mehr Demokratie und Meinungsfr­eiheit eintreten. Der Ex-Premier war einst ein enger Vertrauter Erdogans, bis es 2016 zum Bruch kam. Jetzt sind aus den Freunden politische Rivalen geworden. Auch der ehemalige Wirtschaft­sminister Ali Babacan, ein Mitbegründ­er der Regierungs­partei AKP, hat sich von dem Staatschef losgesagt und plant die Gründung einer eigenen Partei. Damit setzt sich der Erosionspr­ozess der Erdogan-Partei fort. Mit den jüngsten Massenverh­aftungen will Erdogan möglicherw­eise seinen Rivalen vor Augen führen, was ihnen drohen könnte.

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FOTO: AP Wegen angebliche­r Verbindung­en zum Prediger Fetullah Gülen festgenomm­ende Männer werden abgeführt.

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