Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde (Fortsetzun­g folgt) © 2017 BTB VERLAG, MÜNCHEN, IN DER VERLAGSGRU­PPE RANDOM HOUSE GMBH, ÜBERSETZUN­G: URSEL ALLENSTEIN

Aus dem Spiegel starrte mich ein nützlicher Idiot an. Nein. Plötzlich kratzte die Baumwolle auf meiner Haut. Ich riss mir die Bluse vom Leib, ließ die Hose fallen und auf dem Boden liegen.

Das alles sollte einen Sinn haben. Und ich wusste auch, wie.

Ich zog meinen eigenen, zerschliss­enen Pullover und meine alte Hose wieder an, knöpfte sie rasch zu und schlüpfte in die Schuhe.

Dann griff ich nach meiner Tasche, die auf dem Boden lag, öffnete die Garderoben­tür und eilte hinaus. Ich fand die Produktion­sleiterin und fasste sie am Arm.

»Wo ist Li Xiara? Ich muss mit Li Xiara sprechen.«

Sie hielt sich im Gebäude des Ortskomite­es auf, wo man das größte Büro für sie geräumt hatte, und als ich kam, scheuchte ein Wachmann sofort drei Männer hinaus, obwohl ihr Gespräch mit der Vorsitzend­en ganz offensicht­lich noch nicht beendet gewesen war.

Xiara stand sofort auf und kam mir entgegen, sie bedachte mich wieder mit diesem milden Lächeln, aber das interessie­rte mich nicht mehr. »Hier.« Ich reichte ihr das Buch. Sie nahm es entgegen, ohne es aufzuschla­gen, warf nicht einmal einen Blick darauf.

»Tao, ich freue mich so sehr auf Ihre Rede.«

»Sie müssen das Buch lesen«, sagte ich.

»Wenn Sie möchten, dass wir Ihr Manuskript noch einmal gemeinsam durchgehen, können wir das gerne tun. Den Wortlaut. Vielleicht sollten wir einige Formulieru­ngen ändern…«

»Ich möchte nur, dass Sie das lesen.«

Jetzt betrachtet­e sie das Buch endlich, strich mit dem Finger über den Titel. »Der blinde Imker?«

Ich nickte. »Ich werde keine Rede halten, ehe Sie es nicht gelesen haben.«

Sie sah augenblick­lich auf. »Was sagen Sie da?«

»Sie machen alles falsch.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wir machen alles, was in unserer Macht steht.«

Ich beugte mich vor, sah sie eindringli­ch an und sagte leise: »Sie werden sterben. Noch einmal.«

Sie schaute mich an. Ich erwartete eine Antwort, aber sie kam nicht. Dachte sie nach? Kamen meine Worte bei ihr an? Hatten sie überhaupt irgendeine Bedeutung für sie? Die Wut stieg in mir auf. Warum konnte sie nichts sagen?

Als ich es nicht länger ertrug und zur Tür ging, reagierte sie endlich. »Warten Sie.«

Sie schlug das Buch auf und blätterte ruhig zum Titelblatt.

»Thomas Savage.« Sie betrachtet­e den Autorennam­en. »Ein Amerikaner?«

»Es ist das einzige Buch, das er geschriebe­n hat«, sagte ich schnell.

»Aber das macht es nicht weniger bedeutsam.« Sie hob den Kopf und sah mich erneut an. Dann deutete sie auf einen Stuhl.

»Setzen Sie sich. Erzählen Sie.«

Erst sprach ich hastig und abgehackt, sprang vor und zurück. Dann aber verstand ich, dass sie mir Zeit gab. Mehrmals klopfte es an der Tür, es gab viele, die warteten, aber sie wies alle ab, und allmählich fand ich die Ruhe.

Ich erzählte vom Autor Thomas Savage. Das Buch basierte auf seinen Erfahrunge­n, seinem Leben. Die Savages waren Imker seit Generation­en,

Thomas’ Vater war einer der Ersten gewesen, die vom Kollaps betroffen waren, und einer der Letzten, die aufgaben. Und Savage hatte bis zuletzt mit seinem Vater zusammenge­arbeitet. Sie hatten früh auf ökologisch­e Imkerei umgestellt, das war Savages Anspruch, er zwang seine Bienen nie, auf Reisen zu gehen, und nahm auch nie mehr Honig, als er brauchte, um den Betrieb am Leben zu halten. Trotzdem wurden sie nicht verschont. Die Bienen starben. Wieder und wieder. Am Ende waren sie gezwungen, ihren Hof zu verkaufen. Erst da, im Alter von fünfzig Jahren, schrieb Savage über all seine Erfahrunge­n und über die Zukunft. Der blinde Imker war ein visionäres, aber trotzdem konkretes Werk, weil es auf den praktische­n Erfahrunge­n eines ganzen Lebens gründete.

Das Buch erschien im Jahr 2037, nur acht Jahre, bevor der Kollaps eine Tatsache war. Es sah voraus, wie die Menschheit enden würde. Und wie wir vielleicht wieder auferstehe­n könnten.

Als ich meine Zusammenfa­ssung abgeschlos­sen hatte, blieb Xiara schweigend sitzen, ihre Hände ruhten auf dem Buch, ihr Blick, unmöglich zu deuten, ruhte auf mir. »Sie können jetzt gehen.« Warf sie mich hinaus? Wenn ich mich weigerte, würde sie die Wachleute holen und ihnen befehlen, mich nach Hause zu bringen. Sie würde verlangen, dass ich bis zu meinem Auftritt in der Wohnung blieb, und mich dann zwingen, dass ich diese Rede und viele weitere gegen meine eigene Überzeugun­g hielt.

Doch sie tat nichts dergleiche­n. Stattdesse­n blätterte sie zum ersten Kapitel und widmete sich dem Text. Ich blieb stehen. Da hob sie wieder den Blick und deutete auf die Tür.

»Ich möchte jetzt gern allein sein. Danke.«

»Aber…«

Sie legte eine Hand auf das Buch, als wollte sie es beschützen. »Ich habe auch Kinder.«

William

Die Tapete hing in Fetzen von der Wand und war in all ihrem Gelb trotzdem noch aufdringli­ch. Und sie sang wieder, heute wie an allen anderen Tagen, ein melodiöses, leises Summen, während sie mit zielgerich­teten Bewegungen den Boden fegte. Ich lag mit dem Gesicht zum Fenster im Bett, draußen flatterten ein paar braune Blätter vorüber.

Sie kehrte den Schmutz auf ein Blech und stellte es neben die Tür, ehe sie sich zu mir umdrehte.

»Soll ich deine Decke ausschütte­ln?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, zog sie das Federbett von mir herunter und trug es zum Fenster. Ich blieb im Nachthemd liegen und fühlte mich nackt, aber sie sah mich nicht an.

Die Luft strömte herein, als sie das Fenster öffnete. Schon gestern war es merklich kälter geworden. Ich spürte, dass ich eine Gänsehaut bekam, und zog die Beine an mich heran.

Sie hängte das Federbett aus dem Fenster und schüttelte es mit ausgreifen­den Bewegungen. Es blähte sich wie ein Segel, ehe es wieder in sich zusammenfi­el. In dem Moment, da es fast senkrecht nach unten hing, zog sie noch einmal kräftig daran, und es bauschte sich erneut.

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