Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Dasneue Jahrzehnt 2020
2020 steht vor der Tür. Das nehmen wir zum Anlass, noch einmal zurückzublicken und nach vorn zu schauen – aber dieses Mal schlagen wir den Bogen größer: Was haben die vergangenen zehn Jahre gebracht? Und was zeichnet sich für die nächsten zehn ab? So steht diese Ausgabe sozusagen mit einem Bein in der alten und mit dem anderen schon in der neuen Dekade. Wir wünschen ein glückliches neues Jahr!
Die 20er Jahre sind wieder da. Im vergangenen Jahrhundert standen sie für Freiheit, Aufbruch, Moderne und zugleich für den Niedergang der ersten deutschen Demokratie. Was erwartet uns im kommenden Jahrzehnt? Für den Blick in die Zukunft reicht es leider nicht, die Gegenwart in einer Linie fortzuschreiben. Da muss man nur einen Blick auf die schönsten Vorhersage-Flops vergangener Zeiten werfen. Ein besonders anschauliches Beispiel: Um 1850 prognostizierten Stadtplaner, dass die Straßen New Yorks wegen der steigenden Zahl an Kutschen bis zum Jahr 1910 in meterhohem Pferdemist ersticken würden. Tja, und dann wurde das Automobil erfunden, mit dessen Hinterlassenschaften wiederum wir auch in der nächsten Dekade kämpfen werden.
Um sich vor Augen zu führen, was in einem Jahrzehnt alles passiert, hilft die Rückbesinnung auf 2009. Damals gab es noch kein Tablet, keine AfD, keine gleichgeschlechtliche Ehe, der Beruf des Influencers war noch nicht erfunden. Das wenig ausgelastete Bundesamt für Migration zählte pro Jahr rund 30.000 Asylanträge, die Grünen standen bei zehn Prozent und hatten noch keinen Ministerpräsidenten, und die SPD glaubte, dass ein Bundestagswahlergebnis von 23 Prozent ein historisch schlechtes sei. Dass der Erbauer der Trump Towers mal US-Präsident werden und der Londoner Bürgermeister Boris Johnson Großbritannien aus der Europäischen Union führen würde? Lächerlich!
Unübersehbar aber ist inzwischen leider, dass sich das System der freiheitlichen Demokratie trotz seiner Überlegenheit nicht von allein früher oder später durchsetzt oder auch nur von allein erhalten bleibt. Nach dem Mauerfall, den folgenden Umwälzungen in Osteuropa und dem „Arabischen Frühling“gab es große Hoffnungen, wonach sich die Welt Nation um Nation demokratisieren werde. Im vergangenen Jahrzehnt aber haben Populisten und autoritäre Machthaber an Gewicht gewonnen. Die Europäische Union steht am Scheideweg, weiter der Garant für Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent zu bleiben oder in alte nationalstaatliche Muster zurückzufallen. Die Gefahr besteht. Eine Warnung bleibt, wie knapp am Ende Frankreich daran vorbeischrammte, in die Hände der Rechtspopulisten unter Marine Le Pen zu fallen. Die nächste Präsidentschaftswahl bei unseren Nachbarn steht 2022 an. Emmanuel Macron hat dramatisch an Rückhalt verloren.
Die politische Elite steht überall in den westlichen Demokratien im Feuer, nicht nur auf Bundes- oder Landesebene. Auch Kommunalpolitiker sind persönlicher Kritik und Aggressionen aller Art bis hin zu Gewalttaten ausgesetzt. Die Stimmung in den demokratischen Industrienationen der Welt ist aufgeheizt. In Deutschland beschimpfen sich Menschen gegenseitig in sozialen Netzwerken, wie man es von Angesicht zu Angesicht über den Gartenzaun wohl nicht wagen würde. Aus der Hetze im Netz wiederum wird in Einzelfällen Gewalt und Terror im realen Leben. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist ein Beispiel dafür. Die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 2020 sind vor diesem Hintergrund eine ganz andere Herausforderung als in früheren Zeiten. Mehr noch: Der bislang nur halbherzig geführte Kampf gegen Rechtsterrorismus wird künftig bei den Sicherheitsdiensten und im gesellschaftlichen Bewusstsein mehr Raum einnehmen müssen, wenn die 20er Jahre nicht erneut für die Geringschätzung und den folgenden Niedergang der Demokratie stehen sollen.
In der nächsten Dekade wird die Generation erwachsen, die mit Smartphones und Tablets aufgewachsen ist. Diese jungen Menschen werden der Digitalisierung der Arbeitswelt, des Lebensumfelds und der Kommunikation eine Selbstverständlichkeit geben, wie es die Generationen davor nicht vermochten. Obwohl diese jungen Menschen weniger lesen als die Generationen vor ihnen, ist Kulturpessimismus, was ihre Leistungsfähigkeit angeht, unangemessen. Sie kommunizieren, informieren sich und setzen ihre Prioritäten anders – aber nicht schlechter. Sie sind schlau, wissend und zielstrebig. Und sie sind bereit, Verantwortung zu zeigen – wie die „Fridays for Future“-Bewegung bewiesen hat.
Apropos Generationen: In der nächsten Dekade gehen die in den 60er Jahren geborenen Babyboomer in Rente. Die Lebenserwartung dürfte weiter steigen, und die Zahl der Pflegefälle und Demenzkranken wird auch noch einmal deutlich wachsen. Während die jungen Menschen in der Klimapolitik Nachhaltigkeit einfordern, ist das für sie bei der Finanz- und Sozialpolitik bisher noch kein großes Thema. Wird es aber werden – wenn Steuern und Abgaben für die Versorgung einer wachsenden Senioren-Generation steigen müssen.
Nicht zuletzt wird die kommende Dekade von (sicher mehr als) einem Wechsel im Kanzleramt geprägt sein. Angela Merkel hat Deutschland im vergangenen Jahrzehnt – die Flüchtlingspolitik einmal ausgenommen – vorausschauend, solide und mit eisernen Nerven gesteuert. Nach einer so langen Phase der Regierungszeit sind die politischen Fliehkräfte gigantisch, wie schon heute spürbar ist. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin wird damit zu kämpfen haben. Verlassen können sich die künftigen Kanzler sowie die künftigen CDU-Partei- und Fraktionschefs darauf, dass Merkel anders als ihre Vorgänger die aktuelle Politik nicht von der Seitenlinie kommentieren wird. Man wird spätestens ab 2021 von ihr wenig hören.