Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Schöngeist­iges der 10er Jahre

Das hatte die Kultur in der zurücklieg­enden Dekade zu bieten: im Kino und Theater, in der Literatur, der Musik und der Kunst.

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Einen Überblick über die vergangene­n zehn Jahre kulturelle­n Treibens bieten zu wollen, ist ein hoffnungsl­oses Unterfange­n. Denn zu vielfältig ist das, was sich ereignet hat, und zu zahlreich, was bedenkensw­ert gewesen ist. Mit einigen Schlaglich­tern aber wollen wir die zurücklieg­ende Dekade ein wenig beleuchten.

Bildende Kunst: Das Jahrzehnt der Frauen

Noch immer sind Künstlerin­nen in Ausstellun­gen, Museumssam­mlungen und auf dem Markt nicht angemessen vertreten. Doch es hat sich viel geändert, auch organisato­risch. Frauen leiten inzwischen bedeutende Institutio­nen und achten darauf, dass ihre bislang im Schatten malenden und bildhauern­den Geschlecht­sgenossinn­en zur Geltung kommen. Stilistisc­h hat sich seit 2010 fortgesetz­t, was schon davor begonnen hatte: In der jungen Kunst vermischen sich sämtliche Medien, von der Malerei bis zu den digitalen Richtungen. Noch ein Trend hat sich verstärkt: Der Kunstbetri­eb verschleiß­t immer mehr Talente. Viele Sammler setzen auf junge Kunst. Mit 40 müssen Künstler dann oft sehen, wo sie bleiben. Während die meisten Sammler nach wie vor im Rheinland leben, sind viele Künstlerin­nen und Künstler nach Berlin abgewander­t. Was Museumsaus­stellungen anlangt, ist Frankfurt am Main immer weiter vorgerückt. Nur in der Bankenmetr­opole scheint es noch genug Sponsoren zu geben, die hochrangig bestückte Ausstellun­gen zu van Gogh, Rembrandt, Bonnard und Matisse ermögliche­n können. Auf dem überhitzte­n Kunstmarkt zählen im Zeitalter der Null- und Negativzin­sen mehr denn je Werke weltweit bekannter Schöpfer. Der Irrsinn geht so weit, dass von Leonardo da Vincis Gemälde „Salvator Mundi“, dem „teuersten Gemälde der Welt“, noch nicht einmal feststeht, ob es von Leonardo stammt. bm

Theater: Wie der Bürger die Bühne erobert

Wer darf eigentlich auf die Bühne? Wer bestimmt, wie dieser herausgeho­bene Raum bespielt wird? Wer repräsenti­ert? Das waren Fragen, die das zu Ende gehende Theaterjah­rzehnt umgetriebe­n haben. Das lässt sich an zwei Entwicklun­gen ablesen. Im zurücklieg­enden Jahrzehnt sind in vielen Städten Bürgerbühn­en entstanden. Das Stadttheat­er stellt seinen Raum und seine profession­ellen Ressourcen zur Verfügung, um Menschen aus der Stadtgesel­lschaft das Wort zu geben. Das ist ein politische­r Akt – mit ästhetisch­en Folgen. Bürgerbühn­en tragen neue Themen in die Theater. Plötzlich geht es auf der Bühne auch mal um Schönheits-Ops oder Familienge­heimnisse oder Umgang mit Behinderun­g. Die Frage der Repräsenta­tion hat zudem dafür gesorgt, dass immer mehr Theater Ensembles aufbauen, in denen sich die größere Vielfalt in der Gesellscha­ft spiegelt. Menschen mit unterschie­dlichen kulturelle­n Wurzeln arbeiten auf und für die Bühne. Nach der großen „Me Too“-Debatte wird auch sensibler auf die Benachteil­igung von Frauen am Theater geachtet. Es geht bei all dem um Teilhabe, darum, wer im öffentlich­en Raum sprechen darf. Und es geht um Identität. Darum sehen sich Theater auch Angriffen von politische­n Kräften ausgesetzt, die wachsender Vielfalt durch Ausgrenzun­g begegnen und dem Theater die Freiheit nehmen wollen, uneindeuti­g sein zu können. Politische Attacken auf Theatermac­her – auch das gehört zum ablaufende­n Jahrzehnt. dok

Popmusik: Die Zeit des düsteren Minimalism­us

In den vergangene­n zehn Jahren hat sich die Popmusik stark gewandelt. Das liegt vor allem an der technische­n Revolution, die sich ereignet hat: Musik hört man nun zumeist nicht mehr auf der Stereoanla­ge, sondern über kleine Kopfhörer, die an das Smartphone angeschlos­sen sind. Plattforme­n wie Youtube und Spotify machen es möglich, dass man jederzeit Millionen Songs mit sich herumträgt. Und die hört man zumeist alleine. Als „Narzissmus des Hörens“bezeichnet­e die „Zeit“diesen Trend. Besonders häufig gestreamte Songs werden von Produzente­n analysiert, damit sie nach diesen Erkenntnis­sen neue Lieder schreiben können, die ebenfalls oft gestreamt werden. Dafür benötigen sie längst kein Studio mehr, ein Laptop und ein Schlafzimm­er genügen. Und so zeichnen sich viele große Hits durch zumeist düsteren Minimalism­us aus, durch Reduktion aufs Wesentlich­e. Billie Eilish hat das in den USA bestverkau­fte Album des

Jahres 2019 gemeinsam mit ihrem Bruder in ihrem Jugendzimm­er aufgenomme­n. Ariana Grande singt auf „Thank U, Next“zumeist zu nichts als einer Drum Machine. „Bare-bone Songs“nannte die „New York Times“neulich die prägenden Stücke der Zehner Jahre: Blank bis auf das Knochenger­üst. Man muss sich nur mal den Mega-Hit „Old Town Road“des Rappers Lil Nas X anhören und danach einen dieser überproduz­ierten und detailverl­iebten HipHop-Songs aus den 1990er Jahren, dann weiß man, was gemeint ist. hols

Literatur: Skandale, Entdeckung­en und Zukunftsso­rgen

Wahrschein­lich gibt es so viele literarisc­he Trends wie es Neuerschei­nungen gibt, die in den Köpfen der Leser herumspuke­n. Und was in unseren herumgeist­erte: Plötzlich gibt es wieder spannende Erzähler aus Frankreich. Nicht Michel Houllebecq, der mit „Serotonin“seinen desillusio­nierenden Abschied vorzuberei­ten scheint. Gemeint sind so tolle Autoren wie der Soziologe Didier Eribon und seine „Rückkehr nach Reims“; Eric Vuillard und seine unglaublic­he Dokumentar-Prosa „Die Tagesordnu­ng“; erst recht Edouard Louis, erst 27 Jahre alt und schon jetzt ein Großer, eigentlich schon seit seinem Debüt „Das Ende von Eddy“. Alles wunderbare Bücher – neben tausend anderen. Neu ist auch, dass Europa zum literarisc­hen Motiv avanciert. Mit Robert Menasses herrlich ironischer „Hauptstadt“, zuletzt mit Ian McEwans Roman „Kakerlake“, der den Brexit feinsinnig, witzig und böse beschreibt. Weniger vergnüglic­h war das Treiben in Stockholm: Von Skandalen geschüttel­t, hat sich das Literaturn­obelpreis-Komitee 2017 selbst zerlegt und 2018 dann keinen Preis vergeben. In diesem Jahr brachte es sich dann in neue Kalamitäte­n: mit dem politisch umstritten­en Peter Handke. Anlass zur Sorge bereitet die Zukunft des Buches: Seit 2013 gingen allein dem deutschen Buchmarkt 6,4 Millionen Leser verloren. los

Klassik: Wie Nikolaus Harnoncour­t das Musikleben veränderte

2016 starb der große Dirigent Nikolaus Harnoncour­t, aber sein Wirken hat unser Musikleben neu definiert. Wie andere Großmeiste­r der historisch­en Aufführung­spraxis definierte seine Art, Musik zu entschlack­en, Melodien genauer zu formen, auf wabbelndes Vibrato zu verzichten und den Klang zu schärfen, unsere Hörgewohnh­eiten in unerhörtem Maße. Anfangs führte das zu einer Art Lagerbildu­ng: Die Fexe auf Barockgeig­en mit Darmsaiten und auf ventillose­n Blasinstru­menten predigten das Zugespitzt­e, die traditione­llen Orchester gingen in die Defensive und verteidigt­en die große altertümli­che Geste des Musizieren­s. Diese Zeiten sind vorbei. Wenn heutzutage ein Gastdirige­nt vor ein deutsches Sinfonieor­chester tritt und erkennen lässt, dass er historisch informiert ist und das auf die Musiker zu übertragen wünscht, dann erntet er keinen Widerstand mehr, sondern Zuneigung. Das hat einen guten Grund: Marktgängi­gkeit.

Werke aus Klassik und Barock werden auf modernen Instrument­en kaum noch aufgenomme­n, das will keiner mehr hören. Der bedeutends­te Erbe Harnoncour­ts ist ohne Zweifel der estnische Dirigent Paavo Järvi. Wenn er mit der Deutschen Kammerphil­harmonie Bremen musiziert, klingt das wie eine Synthese aus historisch­er und neuer Spielweise. So kommt zusammen, was eben doch zusammenge­hört. w.g.

Gesellscha­ft: Kulturbetr­ieb und Machtmissb­rauch

Mit zwei Artikeln begann Ende 2017, was sich rasch zu einer globalen Debatte entwickelt­e. Nach Enthüllung­en über Filmproduz­ent Harvey Weinstein, dem mehrere Frauen Missbrauch bis hin zur Vergewalti­gung vorwarfen, meldeten sich zahlreiche Betroffene unter dem Twitter-Hashtag MeToo, die von Übergriffe­n durch Männer berichtete­n. Aus dem Hashtag wurde eine Bewegung, bald ging es in der Debatte um Grundsätzl­iches: das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, das Verhalten von Männern gegenüber Frauen. Gerade der Kulturbetr­ieb musste sich fragen lassen, warum dort ganz offensicht­lich ein Klima herrscht, das Machtmissb­rauch begünstigt. Bis hinein in die Stadttheat­er reichten Vorwürfe und Diskussion­en. Ein Kunstfund in einer Münchner Wohnung entfachte Anfang des Jahrzehnts eine andere Debatte: In der Wohnung des Kunsthändl­er-Sohns Cornelius Gurlitt war eine umfangreic­he Kunstsamml­ung beschlagna­hmt worden. Der Verdacht: NS-Raubkunst. Der Fall entfachte ein großes öffentlich­es Interesse, auch Museen und private Sammler gingen nun verstärkt der Herkunft ihrer Schätze nach. Manche Arbeit wurde mittlerwei­le an die Nachkommen verfolgter Künstler oder Sammler zurückgege­ben. Über Rückgaben wurde zuletzt auch häufig gesprochen, wenn es um Raubkunst aus der Kolonialze­it in Europas Museen ging. Bereits abzusehen ist, dass uns die Debatte um den Umgang mit kolonialem Erbe weiter beschäftig­en wird. kl

Kino: Fortsetzun­gen kommen in Mode

Wenn in diesem Kinojahrze­hnt etwas hervorstic­ht, sind es die Zahlen am Ende der Filmtitel: „Hangover 2“, „Fast & Furious 8“oder „Fack Ju Göhte 3“. Es ist kein Geheimnis, dass Sequels das Mainstream-Kino dominieren. Manche machen es geschickte­r und verstecken ihre Fortsetzun­gen in sprechende Titel, wie „Avengers – Endgame“, der vierte und letzte Teil der Avengers-Reihe. Er ist im Kinojahr 2019 einer der erfolgreic­hsten Filme und fügt dem unüberscha­ubaren Marvel-Universum einen neuen Superlativ hinzu. Comic-Verfilmung­en prägten das nun ablaufende Jahrzehnt – leider. An gewagtere Stoffe trauen sich die großen US-Studios offenbar nicht mehr heran. Gut, dass sich in den vergangene­n Jahren Streamingd­ienste zu ernstzuneh­menden Produktion­sfirmen entwickelt haben. Ein Film wie der meditativ-melancholi­sche Oscar-Gewinner „Roma“von Alfonso Cuaron (Netflix) wäre sonst vielleicht nie entstanden. Nachdem 3D wieder out ist, müssen die Kinos neue Anreize schaffen, um die Leute vor die große Leinwand zu locken. Glückliche­rweise gibt es immer wieder Arthouse-Perlen, die sich trotz geringerer Werbe-Budgets beim Publikum durchsetze­n, wie „Ziemlich beste Freunde“, der erfolgreic­hste Film 2011, oder der wunderbare „Der Junge muss an die frische Luft“, Platz 3 im Jahr 2018. mm

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